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Burkhard Jung: „Die Haushaltslöcher bedrängen uns unglaublich“

Städtetags-Präsident Burkhard Jung appelliert an die Politik, die Kommunen weiter finanziell zu unterstützen. Im Interview spricht er über den Impfstart und den digitalen Schub in der Verwaltung. Mit Blick auf Querdenker sagt er: „Es gibt wirklich Menschen, an die man nicht mehr herankommt.“
von Karin Billanitsch · 22. Januar 2021
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In Erinnerung an 2020 bleibt etwa die große Hilfsbereitschaft von Nachbarn, sich gegenseitig zu helfen. Das Sozialverhalten – Rücksicht nehmen, einander helfen, ist wichtiger geworden. Wie nehmen Sie das wahr?

Offen gestanden, ich nehme beides wahr. Ich nehme Vereinzelung wahr, Ängste, Misstrauen, Rückzug auf die Familie und unmittelbar Bekannte. Und auf der anderen Seite sehe ich in der Tat ein unglaubliches Engagement der Dienstleister im weiteren Sinne, also derer, die ihren Beruf als Dienst verstehen – der Krankenschwestern, der Pfleger, bis hin zur Frau oder Mann an der Kasse im Supermarkt. Da ist eine erstaunliche, wunderbare Hilfsbereitschaft festzustellen.

Wir sind abhängig davon, dass sich möglichst viele Menschen an die Regeln halten. Eine Gruppe der Bevölkerung weigert sich aber, Realitäten der Pandemie zu akzeptieren, missachtet Abstands- und Hygieneregeln. Wie kann man Querdenkern in der Kommune wirksam begegnen?

Das ist eine schwierige Frage, weil ich das Gefühl gewonnen habe, dass es wirklich Menschen gibt, an die man nicht mehr herankommt. Ich habe das ähnlich erlebt bei der Asylfrage. Es gibt offensichtlich Menschen, die man kaum noch erreichen kann. Auf der anderen Seite haben sich bei den Verunsicherten, die aus Sorge, ihre Angehörigen nicht mehr sehen zu können oder im Pflegeheim ihre Eltern nicht besuchen konnten, zum Teil Wut und Enttäuschung entwickelt. Auch Angst spielt eine Rolle, dass die Vereinsamung schlimmer und stärker wirkt als die Pandemie. Ich glaube, dass man auf diese Menschen zugehen kann und Gespräche etwas bewirken kann.

Aber leider fehlt derzeit ein entscheidendes Element, was den Bürgermeister, die Oberbürgermeisterin so nahbar macht: die Besuche vor Ort in den Stadtteilen, in den Einrichtungen, die Diskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern vor Ort. Das ist eine schwierige Situation gerade für die kommunale Ebene. Wir waren anderes gewohnt im Hinblick auf die direkte Möglichkeit, mit Bürgerinnen und Bürgern zu sprechen.

Das heißt, die digitale Ansprache erschwert die Kommunikation während der Pandemie und kann die direkte nicht ersetzen?

Definitiv. Es ist eine vermittelte, technische Kommunikation. Man hört, aber schmeckt nicht, man diskutiert, aber ist nicht emotionalisiert. Ich glaube, dass sich die persönlichen, haptischen Begegnungen vor Ort durch nichts ersetzen lassen. Das heißt nicht, dass digitale Kommunikation nicht auch ihre Berechtigung hat – aber wenn es um Emotionen geht, um das, was die Menschen im Innersten berührt, da braucht es die Begegnung von Angesicht zu Angesicht

„Wir müssen immer Haltung zeigen und nicht zurückweichen im Hinblick auf die eigene klare demokratische Grundhaltung“

Eines ist klar, viele Emotionen kochen hoch: Im schlimmsten Fall richten sich Hass, Ablehnung des Staates immer öfter gegen Polizei- und Rettungskräfte und auch Kommunalpolitiker*innen. Tätliche Angriffe beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl. Was können die Kommunen dem entgegensetzen?

Ich antworte mal persönlich: Konsequent alles zur Anzeige bringen! Nicht sagen, damit muss ich leben, diese Beleidigung muss ich akzeptieren – nein, das müssen wir nicht! Als öffentliche Amtsträger haben wir ein Recht auf Respekt und Würde. Auch als Städtetag sagen wir klar: Die Würde des Menschen darf nicht angegriffen werden.

Zweitens sind wir durch den Bundesgesetzgeber ein ganzes Stück vorwärts gekommen im Hinblick auf die methodische Ächtung von Gewalt und Beleidigungen in Netzen. Ich bin froh, dass auch durch Initiative des Deutschen Städtetages Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Thema aufgegriffen hat und das Bundesjustizministerium sich dem Thema gewidmet hat, so dass wir insgesamt bei der Diskussion vorangekommen sind.

Drittens muss man mit allen Gutwilligen, die den angemessenen Ton achten, im Gespräch bleiben. Das gehört zusammen: erklären und kommunizieren und klare Grenzen ziehen. Wir müssen immer Haltung zeigen und nicht zurückweichen im Hinblick auf die eigene klare demokratische Grundhaltung.

Den öffentlichen Gesundheitsdiensten, die nun zentral für die Bekämpfung der Pandemie sind, fehlt es vielerorts an Personal und moderner Technik. Was muss nun passieren, damit sie aufholen können?

Wir haben wirklich eine Renaissance des öffentlichen Gesundheitsdienstes erlebt. Ich bin sehr dankbar für das, was da tagtäglich geleistet wird, weit über die Belastungsgrenze hinaus. Wenn ich von meinem eigenen Gesundheitsamt ausgehe: Wir erleben seit März eine ständige Bereitschaft, 7 Tage, 24 Stunden, sind hier Menschen ansprechbar. Wir machen uns aber natürlich Sorgen, dass das Personal in den Gesundheitsämtern, genauso wie übrigens das Pflegepersonal diese hohe Belastung nicht mehr lange durchhält. Auch deswegen ist es wichtig, endlich konsequent die Infektions-Welle zu brechen.

Es gibt zwar noch immer ein sehr differenziertes Bild in dem einzelnen Landkreis oder kreisfreien Städten, aber insgesamt sind wir in Deutschland bei der personellen Ausstattung gut vorangekommen. Auch die technische und digitale Entwicklung in unseren Gesundheitsämtern ist deutlich nach vorn gekommen. Aber natürlich – das ist die Wahrheit – ist hier noch Luft nach oben.

„Der Impfstart verlief holprig.“

Wie beurteilen Sie den Impf-Start?

Ein offenes Wort: Holprig. Das hat natürlich auch etwas mit der Menge der Impfdosen zu tun, auch mit dem Impfstoff selbst. Aber insgesamt hätte man sich den Start etwas smarter vorstellen können im Hinblick auf die Kommunikation und die Steuerung. Doch das wird sich zurechtruckeln.

Wir sind vor Ort mit den kommunalen Impfzentren sehr gut aufgestellt. Wir sind fast überall in der Lage, sehr effizient und reibungslos den Prozess zu organisieren. Und jetzt muss der Impfstoff kommen. Wir könnten dann allein in den kommunalen Impfzentren bundesweit täglich schätzungsweise 250.000 Menschen impfen. Ich glaube auch, dass die Online-Reservierung von Terminen besser funktionieren wird. Bei aller Kritik: Am Ende ist es die Menge des Impfstoffes, die darüber entscheiden wird, ob es funktioniert. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es bis zum Herbst schaffen werden.

Sie haben die Impfterminvergabe angesprochen. Nicht jeder hat Zugriff auf Internet. Wie organisieren die Kommunen den Prozess so, dass jeder, der will einen Termin bekommt?

Es ist ja sehr unterschiedlich organisiert, in Sachsen gibt es zum Beispiel eine zentrale Hotline, da sind die Kommunen weitgehend raus. Ich glaube und setze darauf, dass es über telefonische Hotlines auch den älteren Menschen gelingt, einen Termin zu vereinbaren. Wir müssen noch stärker an die denken, die gar nicht erreichbar sind. An die Menschen, die selbständig alleine leben, ohne Familie und Angehörige. Da geht es um Hausbesuche oder Fahrdienste. Ein Thema ist auch, in den Altenpflegeheimen flächendeckend zu impfen und dort die Impfbereitschaft zu erhöhen.

Corona hat die Gesellschaft auch ein Stück weit auf das Lokale zurückgeworfen. Werden sich unsere Städte und Kommunen dauerhaft verändern, etwa weil sie mehr für Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum tun? Wie lassen sich wieder mehr Menschen in die Zentren, in die Innenstädte locken?

Es ist deutlich zu spüren, dass das Thema Aufenthaltsqualität sehr an Bedeutung gewonnen hat, wiewohl es schon seit vielen Jahren ein Thema in der Stadtentwicklung ist. Es ist auch spürbar, dass sich durch diese Corona-Situation der Wandel im Einzelhandel beschleunigt. Auch das Einkaufsverhalten der Menschen hat sich verändert. Ich glaube, davon wird viel bleiben.

Unsere Innenstädte werden und müssen sich verändern, hin zu mehr individuellen, beratenden Angeboten des Einzelhandels auf der einen Seite, und mehr Aufenthaltsqualität auf der anderen Seite. Und auf einer dritten Ebene geht es um die Bespielbarkeit der Innenstadt: was findet dort statt, wo ist etwas los? Ich glaube der Marktplatz in seinem historischen Bild als Ort der Gaukler und Händler, um Sehen und Gesehen zu werden, muss wiederbelebt werden. Der Anteil des Wohnens, der Kultur, der Wirtschaft, des Arbeitens: All das wird wieder stärker in die Innenstädte einziehen. Aber das setzt voraus, dass wir diese Transformation gemeinsam mit der Immobilienwirtschaft und der Öffentlichkeit angehen. Ganz aktuell ist unter der Ratspräsidentschaft Deutschlands das weiterentwickelte Papier zur Stadtentwicklung, die Neue Leipzig Charta beschlossen worden. Dort finden sich sehr viele Anregungen, wie Stadtentwicklung in Europa in Zukunft aussehen kann.

„Öffentlicher Dienst muss auch sichtbar bleiben als Dienst.“

Eine weitere Auswirkung ist, dass sich die Präsenzkultur in der Arbeit verändert. Wird es in den Kommunalverwaltungen mehr mobile Arbeit geben?

Ja, das wird so sein. Obwohl da bei mir zwei Herzen in einer Brust schlagen. Öffentlicher Dienst muss auch sichtbar bleiben als Dienst. Wir brauchen die Begegnung und die offenen Rathäuser. Es braucht auch die Beratung, es geht nicht alles telefonisch, digital oder per Online-Klick. Das ist die eine Ebene.

Natürlich braucht es auch die Teambildung, das Miteinander von Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen, um zu gestalten, in festen Strukturen, wo man einander kennt und vertraut.

Wir brauchen beides: Der öffentliche Dienst muss etwas zum Anfassen sein, sichtbar und signalisieren: Wir sind für Euch da! Es ist ein Dienst, und eben kein Job. Auf der anderen Seite brauchen wir neue Formen für das Arbeiten im Homeoffice, neue Formen des digitalen Miteinanders, voll digitalisierte Prozesse, mit denen wir arbeiten und miteinander verlässlich agieren können.

Sind jetzt Strukturen geschaffen worden, die vorher nicht da waren?

Es ist eine deutlich höhere Offenheit auch bei unseren Mitarbeitervertretungen da. Wir brauchen mehr Homeoffice, und Hubertus Heil bringt wegen Corona gerade die Verordnung, wie sie jetzt von Bund und Ländern beschlossen wurde, auf den Weg. Natürlich geht es auch um diese ganz praktischen Fragen, wie Versicherungsschutz, steuerliche Fragen, Ausstattung und Gesundheitsschutz. Aber wir sind da wirklich ein ganzes Stück vorwärtsgekommen und sehr viel pragmatischer unterwegs als in den ideologischen Debatten, die bis Ende 2019 geführt wurden.

Wo besteht der größte Nachholbedarf, was die Digitalisierung der Verwaltung angeht, Stichwort Onlinezugangsgesetz. Hat Corona einen Schub gebracht?

Wir haben unheimlich viel gelernt. Aber es ist auch ein Riesenunterfangen. Diese Pandemie hat einen digitalen Schub ausgelöst, der enorm ist. Ich gebe ein Beispiel: Wir werden jetzt die erste Stadtratssitzung komplett digital bis hin zur namentlichen Abstimmung abhalten. Die Beschlüsse werden gültig sein, weil der Gesetzgeber dafür gesorgt hat, dass das möglich wird. Es ist Druck ins System gekommen, der Folgen haben wird. Aber Luft nach oben, ohne Zweifel, ist noch da.

„Präsenzunterricht ist das höchste Ziel, aber bis die Inzidenzen sinken, braucht es Bildung im Homeschooling.“

Um auf die Schulsituation zu sprechen zu kommen: Hat man sich im Sommer ausreichend auf die zweite Welle vorbereitet?

Ich war in meinem früheren Leben selbst Lehrer und Schulleiter. Ich bin in der Tat der Meinung, Präsenzunterricht ist durch nichts zu ersetzen. Die persönliche Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden erzeugt eine ganz besondere Lernsituation. Dennoch, und dabei bleibe ich, müssen wir in einer solchen Situation, in der die Infektionszahlen durch die Decke gehen, in diesen sauren Apfel beißen. Präsenzunterricht ist das höchste Ziel, aber bis die Inzidenzen sinken, braucht es Bildung im Homeschooling.

Da ist viel passiert: die Bundesländer haben unterschiedliche Lernplattformen angeboten, die mehr oder weniger funktionieren. Da hätte man sich sicherlich einen technischen Standard gewünscht. Wir haben das Problem der Lehrerinnen und Lehrer, die mit der Situation ganz unterschiedlich umgehen. Da gibt es jene, die die digitalen Möglichkeiten wunderbar nutzen, Filme produzieren und ihren Schülerinnen und Schülern am Telefon oder im Chat alles erklären. Da gibt es aber auch den, der gerade einmal eine E-Mail losschicken kann, weil er sich nicht mit den technischen Möglichkeiten auseinandersetzt. Das gehört zur Wahrheit. Insofern braucht es dringend weitere Fortbildungsoffensiven.

Es ist müßig darüber zu diskutieren, ob wir uns hätten besser vorbereiten können im Sommer auf das, was auf uns zukommt. Es ist viel passiert, und es wird noch viel passieren. Ich glaube, dass die Lehrerinnen und Lehrer von Generation zu Generation fitter darin werden. Es wird ein Thema bleiben.

„Wir stehen vor riesigen Herausforderungen bei der Entwicklung unserer Innenstädte.“

Wenn Sie Forderungen der Kommunen angesichts der Situation priorisieren würden, welche wichtigste Forderung an Bund und Länder stellen Sie?

Wir sind finanziell durch den Einbruch der Gewerbesteuer in wirklich sehr tiefem Wasser. Viele Kommunen haben aktuell ihre Haushalte aufzustellen, neue Verschuldung ist nicht immer und überall möglich. Die Haushaltslöcher bedrängen uns unglaublich. Denn wir wollen zum Wirtschaftsaufschwung beitragen und müssen in Schulen, Kitas, nachhaltige Mobilität oder Digitalisierung investieren können. Das hilft auch den Handwerkern vor Ort. Die Steuerfrage ist für uns die zentrale Überlebensfrage. Hier bitten wir dringlich um Hilfe. Wir sind dankbar für die Hilfen in 2020 und die dauerhaften Entlastungen im Bereich der Kosten der Unterkunft. Aber wir brauchen jetzt ein starkes Signal von Bund und Ländern, dass sie uns nicht im Regen stehen lassen und uns bei den Gewerbesteuerausfällen auch für die Jahre 2021 und 2022 helfen.

Zweitens glaube ich, dass wir vor riesigen Herausforderungen stehen bei der Entwicklung unserer Innenstädte. Da braucht es gute Ideen, Programme und zum Beispiel zusätzliche Mittel für die Städtebauförderung. Wir brauchen Unterstützung, um mit klugen Konzepten, konkreten Umbaumaßnahmen, innovativen Nutzungen und der Aufwertung öffentlicher Räume vor Ort reagieren zu können.

Autor*in
Karin Billanitsch

ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.

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