Bodenrechtsreform – Eine verdrängte Herausforderung?
Aufgabe jeder verantwortungsvollen Politik ist es, den Menschen, mit denen man in einem Gemeinwesen verbunden ist, ein erträgliches Leben zu ermöglichen und darüber hinaus ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. Für die Beurteilung der Frage, ob dies gelingt, gilt die Wertordnung, auf die man sich verständigt hat. Eine solche Politik muss Gefahren rechtzeitig erkennen und sich bemühen, sie zu überwinden. Zugleich muss sie positive Entwicklungsmöglichkeiten erforschen und in die Tat umsetzen.
Dementsprechend setzen wir uns gegenwärtig lebhaft mit aktuellen Herausforderungen auseinander. So etwa dem Klimawandel, dem Ausstieg aus der Kernenergie und den fossilen Energien, der Dieselaffäre, der durch zerfallende Staaten und den Missbrauch religiöser Sätze verursachte Zunahme der Gewalt und der dadurch und durch eine wachsende soziale Kluft ausgelösten Flüchtlingsströme. Oder mit nationalen Abschottungen, die wieder mit dem Begriff "völkisch" arbeiten und mit einem Populismus, der mehr auf Emotionen als auf Fakten setzt. Da sehe ich Gefahren für die europäische Einheit und sogar für unsere Demokratie.
Jahrelanger Anstieg der Baulandpreise
Eine Herausforderung allerdings ist von der politischen Tagesordnung seit langem verschwunden, nämlich der seit Jahrzehnten andauernde Anstieg der Baulandpreise, der sich gerade in den vergangenen Jahren noch verstärkt hat. Er ist auch eine wesentliche Ursache dafür, dass sich die Mieten ebenso kontinuierlich erhöht haben. Dem versucht die Politik mit einer sogenannten Mietpreisbremse entgegenzuwirken, die allerdings bisher wenig erfolgreich war. Deshalb spielte dieses Thema auch im jüngsten Bundestagswahlkampf eine Rolle.
Aber über die wesentliche Veranlasserin dieser Entwicklung, nämlich die Baulandpreissteigerung, wurde nicht gesprochen. Sie wird offenbar als unabänderlich hingenommen. Manche werden meinen, diese Herausforderung bliebe an Gewicht und Bedeutung hinter den von mir soeben genannten Herausforderungen zurück und sei deshalb nicht vergleichbar. Dem widerspreche ich. Denn Grund und Boden ist keine beliebige, je nach Bedarf produzierbare oder auch verzichtbare Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Er ist unvermehrbar und unverzichtbar. Jeder braucht ihn in jedem Augenblick seines Lebens wie das Wasser oder die Luft.
Das Gebot sozial gerechter Nutzung als Richtschur für den Gesetzgeber
Das ist keine neuere Erkenntnis. Denn schon vor 50 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 12. Januar 1967 (BVerfGE 21,73/86) ausgeführt: „Die Tatsache, dass der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der Kräfte und dem Belieben des einzelnen vollständig zu überlassen: eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern. … Das Gebot sozial gerechter Nutzung ist aber nicht nur eine Anweisung für das konkrete Verhalten des Eigentümers, sondern in erster Linie eine Richtschnur für den Gesetzgeber, bei der Regelung des Eigentumsinhalts das Wohl der Allgemeinheit zu beachten. Es liegt hierin die Absage an eine Eigentumsordnung, in der das Individualinteresse den unbedingten Vorrang vor den Interessen der Gemeinschaft hat."
Vor 50 Jahren gab es, wie ich noch erläutern werde, einen ernsthaften Versuch, diesen Regeln durch eine Reform des Bodenrechtes Geltung zu verschaffen und dadurch auch der Ausweitung der sozialen Kluft in unserem Land einen Riegel vorzuschieben. Doch er ist gescheitert. Seitdem schweigt die Politik. Dafür habe ich keine einleuchtende Erklärung. Aber ich halte es für meine Pflicht, darauf aufmerksam zu machen. Und an Fakten zu erinnern, die jedermann zugänglich sind. Übrigens hat dieses Thema nicht nur eine nationale Bedeutung. Denn die Bodeneigentumsverhältnisse und die Bodenpreisentwicklung spielen auch global eine relevante und zwar negative Rolle, so etwa in Afrika und in Südamerika.
Entwicklung der Baulandpreise seit Ende des Zweiten Weltkrieges
Wie haben sich die Baulandpreise seit Ende des Zweiten Weltkriegs konkret entwickelt? Unter Bauland ist im Folgenden "baureifes Land" zu verstehen; also Flächen, die nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften baulich nutzbar sind. Ich werde auch auf die spezielle Münchner Entwicklung eingehen, die ich unmittelbar erlebt habe. Sie ist zwar schon wegen des kontinuierlichen starken Wachstums der Stadt von besonderer Art. Aber die allgemeine Entwicklung ist der in München bislang in einem gewissen Abstand stets gefolgt.
In den Jahren von 1962 bis 1975 ist der Baulandpreis in der alten Bundesrepublik um 197 Prozent gestiegen. Das heißt, ein Quadratmeter Bauland kostete 1962 durchschnittlich 14,89 D-Mark, 1975 hingegen 44,08 D-Mark. Das Jahr 1962 ist hier als Ausgangsjahr gewählt, weil die Statistik diese Entwicklung erst seit diesem Zeitpunkt bundesweit erfasst hat. Für München ist sie bereits seit 1950 dokumentiert. Von 1950 bis 1975 stiegen hier die Preise um 2866 Prozent. Das heißt, ein Quadratmeter baureifes Land kostete in München im Jahr 1950 durchschnittlich rund sechs D-Mark, 1976 hingegen bereits rund 170 D-Mark. Der allgemeine Verbraucherpreisindex stieg indes bundesweit von 1962 bis 1975 nur um 65,2 Prozent.
Als Folge der Baulandpreissteigerung stiegen auch die Mieten Im Zeitraum 1962 bis 1975 um 113,9 Prozent. Für die Stadt München betrug diese Steigerung für den selben Zeitraum 233 Prozent. Ebenso wuchsen die Summen, die die öffentliche Hand für den Erwerb von Grundstücken aufbringen musste, die sie für den Ausbau der Infrastruktur benötigte. Konkrete Zahlen lassen sich dafür bundesweit im Nachhinein kaum mehr ermitteln. Die Summen dürften aber bundesweit zumindest im oberen dreistelligen Milliardenbereich liegen.
Diese Entwicklung wurde zunächst in München und in einigen anderen Großstädten immer lebhafter diskutiert und beschäftigte von 1970 an auch den Münchner Stadtrat. Dieser setzte auf meinen Vorschlag hin im November 1970 eine Kommission mit dem Auftrag ein, eine Initiative der Stadt für eine Reform des Bodenrechts vorzubereiten. Gestützt auf die von der Kommission erarbeiteten Vorschläge forderte der Stadtrat im März 1972 vom Bundesgesetzgeber eine Neuordnung des Bodenrechts durch die Ausweitung des gemeindlichen Vorkaufsrechts, die Einführung eines Baugebots, die Abschöpfung der Planungsgewinne und die Einführung einer Bodengewinnsteuer. Für die Abschöpfung der Planungsgewinne wurde insbesondere geltend gemacht, es sei eine grobe Ungerechtigkeit, dass durch Planungsentscheidungen - also beispielsweise durch die Aufhebung oder Einschränkung von Baurechten - verursachte Wertminderungen entschädigt werden müssten, durch entsprechende Baurechtsverleihungen bewirkte Wertsteigerungen aber dem Eigentümer verblieben.
Das Thema wurde inzwischen auch bundesweit intensiv diskutiert. Das war angesichts der bundesweiten Baulandpreissteigerungen nicht überraschend. Unter anderem äußerten sich der Deutsche Industrie- und Handelstag, der Zentralverband des deutschen Handwerks, der DGB, der Deutsche Mieterbund und der Deutsche Juristentag aber auch die Kirchen im Sinne der Notwendigkeit von Reformmaßnahmen. Besonders nachdrücklich forderte der Deutsche Städtetag ein Tätigwerden des Gesetzgebers zur Umsetzung von Vorschlägen, die weitgehend mit denen des Münchner Stadtrats übereinstimmten.
Auf der politischen Ebene engagierte sich vor allem die SPD
Auf der politischen Ebene engagierte sich vor allem die SPD. Sie bildete 1970 beim Parteivorstand eine Kommission für Bodenrechtsreformen, der ich zunächst als Münchner Oberbürgermeister und dann von Dezember 1972 an als Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau angehörte. Die erarbeiteten Vorschläge nahm der Bundesparteitag in Hannover im April 1973 an. Danach wurden insbesondere die Einführung eines Bau-, Modernisierungs- und Abbruchgebots, eines Planungswertausgleichs und einer Bodenwertzuwachssteuer gefordert. Damit wurden Maßnahmen angekündigt, die auch im Beschluss des Münchner Stadtrats schon genannt worden waren.
Der Parteitag ging auf Empfehlung der Kommission jedoch noch einen erheblichen Schritt weiter und entwickelte Grundgedanken für ein Rechtsinstitut, das die Aufspaltung des Bodeneigentums in ein Verfügungs- und ein Nutzungseigentum vorsah. Das Verfügungseigentum, also das Recht, den Nutzer und die Art der Nutzung zu bestimmen, sollte den Kommunen zustehen, das davon getrennte Eigentum an Gebäuden oder anderen Nutzungseinrichtungen deren Besitzern, die darüber auch verfügen konnten.
Vergeben sollten die Kommunen das Nutzungseigentum an Private. Realisiert werden sollte die Aufspaltung vor allem in Zonen raschen Wandels, in Kernbereichen mit hoher Investitionsintensität und in den Entwicklungsgebieten von Ballungszonen oder für stadtnahe Erholungsflächen durch Umwidmung des Eigentums an Grundstücken, die sich bereits in der Hand von Kommunen befanden. Nicht eingesetzt werden sollte das neue Rechtsinstitut bei eigengenutzten Eigenheimen und Eigentumswohnungen und bei landwirtschaftlich genutzten Flächen. Aus diesen Grundgedanken sollte die Kommission ein Konzept entwickeln und dieses dem nächsten Parteitag vorlegen.
Auch die anderen Parteien beschäftigten sich mit diesem Thema
Auch die anderen Parteien beschäftigten sich mit diesem Thema. So die CSU auf ihrem Parteitag im September 1973. Den Vorschlägen einer Kommission folgend sprach sich dieser Parteitag unter anderem für einen Planungswertausgleich, für Bau-, Modernisierungs- und Abbruchgebote und für die Einkommensbesteuerung von Gewinnen aus Grundstücksveräußerungen aus. Das stimmte in einer erstaunlichen Weise mit den Beschlüssen überein, die der SPD-Parteitag ein halbes Jahr vorher gefasst hatte.
Auch die CDU verabschiedete auf ihrem Parteitag vom Oktober 1973 entsprechende Beschlüsse, lehnte dort aber einen Planungswertausgleich mit Mehrheit ab. Das Konzept eines geteilten Verfügungs- und Nutzungseigentums kritisierten beide Parteien scharf. Hier handele es sich um die Auflösung der bestehenden Eigentumsordnung und eine "nackte Sozialisierung", hieß es in entsprechenden Kommentaren. Schon vorher hatte die FDP in ihren Freiburger Thesen vom Oktober 1971 dem Bodeneigentum einen eigenen Abschnitt gewidmet. Darin wird die Besteuerung von Verkaufsgewinnen und bei baureifen Grundstücken auch die des jährlichen Wertzuwachses gefordert. Weitere konkrete Vorschläge fehlten jedoch.
Das war die faktische und die politische Situation, in der ich nach Übernahme des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau im Dezember 1972 eine Novelle zum Bundesbaugesetz auszuarbeiten hatte. Der entsprechende Referentenentwurf lag im Frühjahr 1974 kurz vor meinem Übergang in das Bundesjustizministerium vor. Er enthielt die auch von der Opposition befürworteten Erweiterungen des Vorkaufsrechts und die von ihr ebenfalls unterstützten neuen Bau-, Nutzungs- Abbruchs- und Erhaltungsgebote und außerdem eine Planungsgewinnabgabe in voller Höhe.
Die FDP als Koalitionspartner war aber nur bereit, einer Abgabe in Höhe von 50 Prozent der durch die Planungsentscheidung herbeigeführten Wertsteigerung zuzustimmen. Der von der Bundesregierung im August 1974 auf den Weg gebrachte Gesetzentwurf enthielt deshalb lediglich eine Abgabe in dieser Höhe. Im Verlauf zäher Beratungen - sie nahmen fast zwei Jahre in Anspruch - brachte die Opposition die Planungsgewinnabgabe aber mit Hilfe des Bundesrats gänzlich zu Fall. Sie war in dem im August 1976 verkündeten Gesetz zur Änderung des Bundesbaugesetzes nicht mehr enthalten.
Keine Gesetzesinitiative
Die zur Zurückdrängung der privaten Gewinninteressen zugunsten des Gemeinwohls vorgeschlagenen Änderungen von Steuergesetzen und des Bewertungsrechts lagen in der Zuständigkeit des Bundesfinanzministeriums. Sie stießen dort aber auf wenig Gegenliebe. Sie würden zu einer weiteren Steigerung des Bodenpreises führen, erklärte man dort. Deshalb kam es auch zu keiner Gesetzesinitiative.
Die Novelle zum Bundesbaugesetz hat die Einwirkungsmöglichkeiten der Gemeinden durch die ihnen neu eingeräumten Befugnisse im Bau- und Planungsbereich verstärkt. Die weitere Preisentwicklung hat sie jedoch nicht beeinflusst. Denn die Baulandpreise stiegen weiterhin deutlich stärker als der Preisindex. Nämlich von 1976 bis 1992 im alten Bundesgebiet um 135 Prozent, der Preisindex hingegen nur um 62,9 Prozent. München lag dabei mit einer Baulandpreissteigerung von 406 Prozent wieder weit vorne.
Meine eigene Partei hat sich zwar auf ihrem Mannheimer Parteitag 1975 mit einer Vorlage beschäftigt, die sich erneut für das Modell "Verfügungs- und Nutzungseigentum" aussprach, daneben aber auch ein erweitertes städtebauliches Erbbaurecht als mögliche Lösung bezeichnete. Der Parteitag begnügte sich indes mit einem Beschluss, in dem es hieß, ob das Ziel durch eine Aufspaltung in ein Verfügungs- und Nutzungseigentum oder durch die Schaffung eines neuen Erbbaurechts besser erreicht werde, sei eine Frage der Praktikabilität und der politischen Durchsetzbarkeit.
Der Hamburger Parteitag 1977 sprach sich dann für ein städtebauliches Erbbaurecht aus. Auch im Berliner Grundsatzprogramm von 1989 wurde dem Thema noch ein eigener Abschnitt gewidmet. Darin wird unter anderem die bisher nicht realisierte Forderung nach einem Planungswertausgleich und einer Bodenwertzuwachssteuer wiederholt. Die Forderung nach Einführung eines neuen Rechtsinstituts, das zwischen Verfügungs- und Nutzungseigentum unterscheidet, wurde aber dahin abgeschwächt, dass dem Erbbaurecht bei Grundstücksverfügungen Vorrang eingeräumt werden soll. Aber gefruchtet hat das nichts.
Die anderen Parteien schwiegen ohnehin und kamen zu keiner Zeit mehr auf ihre reformorientierten Beschlüsse aus den frühen Siebzigerjahren zurück. Auch wir in der SPD haben übrigens im Hamburger Programm von 2007 - abgesehen von dem einen Satz "Wohnraum darf nicht zum Spekulationsobjekt werden" - dazu nichts mehr gesagt.
Weg der Stadt München
1993 wurde in das Baurecht eine Bestimmung eingefügt, die die Gemeinden zum Abschluss städtebaulicher Verträge ermächtigte, mit deren Hilfe eine "sozial gerechte Bodenordnung" herbeigeführt werden sollte. Sie konnten Investoren jetzt Verträge anbieten, die ihnen eine gewisse Sicherheit bei Genehmigungsverfahren und der notwendigen Infrastrukturmaßnahmen verschaffte. Als Gegenleistung mussten sich die Investoren als Planungsbegünstigte verpflichten, sich mit mindestens einem Drittel, höchstens aber zwei Dritteln ihres Planungsgewinns an den Kosten der Infrastrukturmaßnahmen zu beteiligen. Die Stadt München hat von dieser neuen Möglichkeit inzwischen intensiv Gebrauch gemacht und auf diesem Wege in der Zeit von 1994 bis 2015 einen Teil der Planungsgewinne in Höhe von 628 Millionen Euro abgeschöpft.
Das ist zu begrüßen. Das Problem der leistungslosen Gewinne ist damit aber nicht generell gelöst. Denn dem Münchner Beispiel sind bisher bei weitem nicht alle, sondern im wesentlichen nur die Städte gefolgt, die wegen ihres Wachstums Bauinvestoren anziehen, und zwar Bauinvestoren, die zur teilweisen Abführung ihrer Planungsgewinne deshalb bereit sind, weil sie mit einem Preisanstieg rechnen, der ihre Leistungen ausgleicht, ja auf Dauer wesentlich übertrifft. Auch geht es immer nur um einen Teil dieser Gewinne.
Auch auf steuerlichem Gebiet ist weiterhin nichts geschehen. Bei der Grundsteuer beispielsweise müssen die zuständigen Behörden in West-Deutschland noch immer mit Immobilienbewertungen aus dem Jahr 1964 und in Ost-Deutschland sogar aus dem Jahr 1935 arbeiten. Außerdem ist inzwischen unstreitig, dass die Grunderwerbssteuer die Bodenpreise steigert. Dennoch haben einige Bundesländer sie erst kürzlich erhöht. Erörtert wird unter Sachverständigen ein Vorschlag zur Einführung einer Steuer auf Werterhöhungen bebaubarer Grundstücke, die in Erwartung weiterer Preissteigerungen nicht verkauft werden und deshalb nicht bebaut werden können.
Die Baulandpreise stiegen deshalb weiter deutlich stärker an als der Preisindex, nämlich von 1993 bis 2015 bundesweit um 194 Prozent, der Preisindex hingegen nur um 38,7 Prozent. In München stiegen die Baulandpreise in dieser Zeit nur um 124 Prozent, also erstaunlicherweise weniger stark. Offenbar hat dabei eine Rolle gespielt, dass Mitte der Neunzigerjahre in München mehrere Kasernenareale frei wurden. Zwischen 2010 und 2015 lag diese Preissteigerung aber bei 55 Prozent und damit wieder über dem Bundesdurchschnitt.
Gleiche Situation wie Anfang der 70er Jahre
Es stiegen also von 1962 bis 2015 bundesweit die Baulandpreise um 1600 Prozent und die Mieten um 495 Prozent, der Preisindex hingegen nur um 302 Prozent. Für München ergibt sich für die Zeit von 1950 bis 2015 eine Steigerung um sage und schreibe 34 263 Prozent. Enorme Auswirkungen hatte diese Entwicklung insbesondere auf die Mieten und auch auf den Bau oder Erwerb eines Eigenheims, aber auch auf die Gemeindehaushalte und auf die Vermögensbildung und -verteilung insgesamt. Die Frage, welche Gesamtsumme die leistungslosen Bodengewinne inzwischen erreicht haben und wem sie vor allem zugeflossen sind, wäre eine eigene Untersuchung wert. Meine Vermutung, dass sie sich auf mehrere Billionen Euro beläuft und nicht bei vermögenslosen, sondern zu einem wesentlichen Teil bei schon Vermögenden angekommen ist, erscheint immerhin nicht abwegig.
Wir stehen also noch immer vor der gleichen Situation wie Anfang der Siebzigerjahre. Im Gegensatz zu damals gibt es heute aber noch nicht einmal eine öffentliche Diskussion darüber, wie dieser Herausforderung begegnet werden könnte. Ja, es ist im Laufe der Zeit der Eindruck entstanden, dass man damit eben leben müsse. Warum das so ist, vermag ich zwei Jahrzehnte nach meinem Ausscheiden aus der aktiven Politik nicht hinreichend zu beurteilen. Aber ich sträube mich dagegen, dass das Gemeinwohl auf diesem Gebiet vor der Macht des Marktes kapituliert.
Das widerspräche zudem sowohl dem Grundgesetz als auch der Bayerischen Verfassung. Sagt doch das Grundgesetz in seinem Artikel 14, Absatz 2: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." In der Bayerischen Verfassung heißt es zudem in Artikel 161, Absatz 2 sogar: "Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen." Konkreter lässt sich ein Verfassungsauftrag kaum formulieren. Und er verdient Beachtung.
Deshalb fordere ich nicht nur die Politik, sondern alle, die in diesem Bereich Verantwortung tragen, und auch die Medien auf, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Ich tue dies nicht im Ton des Vorwurfs, den ich jedenfalls für die Zeit von 1976 bis 1994 ja wohl auch an mich selbst zu richten hätte. Ich tue das aus Sorge, dass wir die Dinge weiter treiben lassen und damit die soziale Kluft in unserem Lande noch weiter verbreitern. Ein erster Anfang wäre es schon, wenn der neue Bundestag eine Enquête-Kommission einsetzen würde, die sich mit den Fakten beschäftigt und alle bisher bekannt gewordenen Lösungsansätze zusammenstellt.
Meine sozialdemokratischen Freundinnen und Freunde sollten sich dabei auch an eine Aufforderung Willy Brandts aus dem Jahre 1974 erinnern. Sie findet sich in seinem Buch "Über den Tag hinaus" und lautet: "Es wäre gut, wenn unser Parlament über Parteigrenzen hinweg von Zeit zu Zeit die Courage zur einmütigen Feststellung über gemeinsame Erfolge, aber euch über gemeinsame Versäumnisse deutscher Politik fände. So mit Notwendigkeit beim Bodenrecht. Denn es gibt keinen Zweifel, dass hier eine der fundamentalen Reformen zur Erleichterung und Humanisierung unseres Zusammenlebens lange überständig ist."
photothek.net
Der promovierte Jurist, geboren 1926, war von 1987 bis 1991 Parteivorsitzender der SPD, von 1972 bis 1974 unter Bundeskanzler Willy Brandt Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und 1974 bis 1981 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt Justizminister.