50 Jahre Gebietsreform

In Niedersachsen gibt es seit 1974 weniger Gemeinden

Ulf Buschmann26. Februar 2024
Gebietsreform-Brake-Harriersand-Schwanewede-Niedersachsen
Die Weserinsel Harriersand mit ihrem Sandstrand fiel durch die Gebietsreform von der Kreisstadt Brake an die neue Großgemeinde Schwanewede.
Am 1. März 1974 trat die niedersächsische Gebietsreform in Kraft. Die Anzahl der selbstständigen Gemeinden, Landkreise und kreisfreien Städte hat sich verringert.

Die niedersächsische Gemeinde Barrien hörte auf zu existieren. Sie gehörte wie zwölf weitere einst selbstständige Gemeinden zur Stadt Syke. Wie Barrien erging es auch der Gemeinde Neuenkirchen – diese wurde Teil der neuen Großgemeinde Schwanewede, der auch Europas größte Flussinsel Harriersand von der Kreisstadt Brake zugeschlagen wurde. Die Liste ließe sich fast endlos fortsetzen. Der Grund dafür: Am 1. März 1974, also vor 50 Jahren, trat der erste Teil der großen niedersächsischen Kreis- und Gebietsreform in Kraft. Zuerst verloren viele Kleinst- und Kleinkommunen ihre Eigenständigkeit. Knapp dreieinhalb Jahre später, zum 1. August 1977, folgte die Kreisreform.

Damit war im damals und heute flächenmäßig zweitgrößten Bundesland ein Verfahren abgeschlossen, dessen erste Diskussionen bis in die 1960er-Jahre zurückreichten. Auch andere Bundesländer hatten sich an die kommunale Neugliederung gemacht. Nachdem die baulichen Schäden des Zweiten Weltkriegs beseitigt waren, hatte sich gezeigt, dass viele, insbesondere kleine Gemeinden nicht mehr in der Lage waren, ihren Aufgaben der Daseinsvorsorge nachzukommen.

Das „Weber-Gutachten“

In Niedersachsen begann die Diskussion im Prinzip mit dem 30. März 1965. Damals wurde der damalige Innenminister Otto Bennemann (SPD) damit beauftragt, eine Sachverständigenkommission zu berufen. Diese sollte „unter dem Gesichtspunkt optimaler Leistungsfähigkeit Vorschläge für eine Verbesserung der Verwaltungsstrukturen des Landes Niedersachsen, vorwiegend für eine kommunale Gebietsreform und Neuordnung der Regierungs- und Verwaltungsbezirke“ erarbeiten. So steht es in einer Information des Ministeriums in Hannover. Und: „Es bestand grundsätzlich Einvernehmen bei den  politisch Verantwortlichen, dass eine Gebietsreform Not tut, denn Niedersachsen hatte sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vordringlich mit Fragen des Wiederaufbaus, der Eingliederung der Vertriebenen, der wirtschaftlichen Gesundung und nicht zuletzt mit Problemen seiner inneren Einheit zu befassen.“

Mehr als drei Jahre später präsentierte die Sachverständigenkommission ein abschließendes Gutachten. Dieses sollte als „Weber-Gutachten“ von 1969 in die niedersächsische Geschichte eingehen. Der Tenor: Vor allem die ländlichen Gemeinden seien den Ansprüchen der Zeit nicht mehr gewachsen. Dies sollte sich ändern, indem die Leistungsfähigkeit der Gemeinden und Kreise unter anderem durch definierte Mindestgrößen verbessert werden – unter anderem eine Mindest-Einwohnerzahl. Am 9. Februar 1971 fasste der Niedersächsische Landtag auf der Basis des Gutachtens eine Entschließung. Diese war maßgeblich für die kommenden Jahre beziehungsweise weitere Entwicklung. So sollte die Neugliederung der Gemeinden bis zum Jahr 1974 abgeschlossen sein.

„Lokale Identität“

Die Diskussionen darüber waren eröffnet, und dass die Ergebnisse nicht überall auf Gegenliebe stießen, war klar. In einigen Regionen war „Weber-Gutachten“ gar so etwas wie das Unwort des Jahres. Die Menschen fürchteten, dass ihre Gemeinden als Ortschaften oder Ortsteile größerer Gebietskörperschaften von der Landkarte und somit aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwindet. Dr. Jörg Bogomil, Sozialwissenschaftler, Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliche Verwaltung, Stadt- und Regionalpolitik an der Ruhr-Universität Bochum, fasst diese Ängste unter dem Stichwort „lokale Identität“ zusammen. Die Diskussionen vor Ort waren denn auch schwierig: Ortspolitiker*innen pochten auf die weitere Eigenständigkeit ihrer Kommune, andere wollten nicht mit der einen, sondern lieber mit der anderen Gemeinde oder plädierten für die Bildung einer Samtgemeinde.

Doch aufzuhalten war die Reform nicht mehr. Diese hat sich bis heute in Zahlen laut Innenministerium so ausgewirkt: Per 1. Januar 1967 hatte es noch 2.080 Gemeinden mit weniger als 500 Einwohner*innen gegeben. In den 4.015 Kommunen mit weniger als 5.000 Einwohner*innen lebten knapp die Hälfte aller Menschen. In lediglich 179 Gebietskörperschaften gab es mindestens 5.000 Einwohner*innen. Daraus wurden nach der Neugliederung rund 1.000 Städte und Gemeinden, aus 60 Landkreisen 37. Auch die Zahl der kreisfreien Städte reduzierte sich von 15 auf neun. Grundlage für die Reduzierung der Landkreise war das „Achte Gesetz zur Verwaltungs- und Gebietsreform“ vom 28. Juli 1977. Dieses markierte den Abschluss des Projekts der Neugliederung Niedersachsens.

Freiwillige Zusammenschlüsse

Heute sei solch eine von oben angeschobene Reform wie in den 1970er-Jahren nach Überzeugung von Sozialwissenschaftler Bogimil „keine realistische Durchsetzungsform“. Sprich: Möchten sich Kommunen oder Landkreise zusammenschließen, muss dies auf freiwilliger Basis oder durch entsprechende finanzielle Anreize des Landes geschehen. Bogomil sagt: „Ich sehe Potenzial für freiwillige Zusammenlegungen.“ Dass Vorhaben auf diese Weise in Niedersachsen funktionieren, zeigt die heutige Einheitsgemeinde Hagen im Bremischen. Diese war zum 1. Januar 2014 entstanden, nachdem sich die zuvor bestehende Samtgemeinde Hagen aufgelöst hatte. Im Gegenzug übernahm das Land Niedersachsen einen Großteil der Schulden.

Den Standpunkt des Wissenschaftlers bestätigt das Niedersächsische Innenministerium in einer Stellungnahme zur Gebietsreform: „Die Erfahrungen haben gezeigt, dass die Einbeziehung der Einwohner*innen ein ganz wichtiger Aspekt ist. Nicht immer gelingt es, Menschen von Anbeginn an zu überzeugen. Beteiligung und Einbeziehung müssen gleichwohl noch stärker in derartigen Reformüberlegungen und -prozessen gelebt werden. Im Zuge der derzeitigen (niedrigschwelligen) Reformprozesse setzt die Landesregierung deshalb maßgeblich auf freiwillige Vorhaben der kommunalen Ebene.“

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