Boris Velter

„Die Reform hilft Kliniken aus dem Hamsterrad raus”

Karin NinkCarl-Friedrich Höck04. September 2023
„Die historische, umfassende Arztzentriertheit des deutschen Systems muss überwunden werden”, meint Boris Velter.
Boris Velter ist Gesundheitsexperte und Bundesvorsitzender der ASG. Im Interview erklärt er die geplante Krankenhausreform, skizziert eine Antwort auf den Fachkräftemangel und plädiert für eine stärkere Rolle der Kommunen in der Pflege.

Laut einer Umfrage der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft sehen fast 70 Prozent der Kliniken ihre Existenz kurz- und mittelfristig gefährdet – selbst mit einer Krankenhausreform. Muss man sich um die flächendeckende Gesundheitsversorgung ernsthaft Sorgen machen?

Nein. Sorgen mache ich mir darum, wie wir die vorhandenen Ressourcen sinnvoll einsetzen. Das betrifft insbesondere die Menschen, die tagtäglich gute Arbeit leisten – aber viel Zeit mit Bürokratie verlieren oder damit, einem Röntgenbild hinterherzurennen. Wir haben über viele Jahre ein System laufen lassen, das dazu geführt hat, dass ein Krankenhaus nur überleben konnte, wenn es möglichst viele Fälle generierte. Das funktioniert jetzt nicht mehr – zum einen, weil es zu wenig Fachkräfte gibt, aber auch weil die Menschen sich seit der Corona-Pandemie seltener stationär behandeln lassen wollen. Dadurch sind viele Kliniken in einer extrem schwierigen Finanzsituation. Wir werden aber in den nächsten zwei Jahrzehnten auch nicht genügend Personal gewinnen können, um die hohe Anzahl an Betten zu betreiben, die bisher von den Bundesländern vorgesehen sind. Deswegen ist die geplante Krankenhausreform so notwendig. Sie ist die Antwort darauf.

Ein wichtiges Element der von ­Gesundheitsminister Karl ­Lauterbach geplanten Reform: die umstrittenen Fallpauschalen (DRGs) sollen teilweise durch Vorhaltepauschalen ersetzt werden. Was nützt es den Kliniken?

Die Vorhaltepauschalen helfen den Kliniken, um aus dem Hamsterrad herauszukommen, immer mehr Fälle generieren zu müssen. Als Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheitswesen (ASG) ­haben wir schon vor mehr als zehn Jahren gefordert, das System Fallpauschalen umzuwandeln. In der vergangenen Legislaturperiode haben wir es bereits geschafft, den Lohndruck aus der Pflege herauszunehmen – sodass kein Krankenhaus heute einen Nachteil hat, wenn es viele Pflegekräfte einstellt und diese gut bezahlt. Mit den Vorhaltepauschalen schaffen wir ein garantiertes Grundbudget für die Kliniken. Das nimmt Druck vom Management weg, Zielvereinbarungen schließen zu müssen, die zulasten von Beschäftigten und Patienten gehen.

Eine gängige Expertenmeinung lautet: Große Städte seien teilweise mit Krankenhäusern überversorgt, während es im ländlichen Raum einen Mangel gibt. Stimmt das? Und wie lässt sich die Versorgung auf dem Land verbessern?

Die Frage ist, woran man Unterversorgung festmacht. Die Bettenauslastung der Kliniken in den vermeintlich unterversorgten Regionen ist oft geringer als in den überversorgten. Tatsache ist, dass etwa ein Drittel der Leistungen, die in Deutschland stationär erbracht werden – also im Krankenhaus – in anderen Ländern ambulant gemacht werden. Das führt aber dort nicht zu schlechteren Resultaten: Weder sterben die Leute früher noch haben sie schlechtere Operationsergebnisse. Der Vorteil ist: Die Behandlung lässt sich mit weniger Personal und damit preiswerter durchführen.

Ansätze für eine bessere ambulante Versorgung mit Pflegefachkräften gibt es in Deutschland doch auch, etwa mit „Schwester Agnes“ in Mecklenburg-Vorpommern.
Ja, das ist aber alles punktuell und immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Systeme sind starr. Die Ärzteschaft und die Krankenhäuser haben eine starke Lobby und tun sich schwer damit, andere Gesundheitsberufe reinzulassen.

Trotzdem: Der Bürger oder die Bürgerin will auch auf dem Land ein Krankenhaus in der Nähe haben, wo man im Notfall schnell hinkommt. Wenn die Bettenauslastung hier geringer ist, dann brechen doch gerade diese Kliniken weg. Was hilft da?

Bisher versuchen eine Reihe dieser ­kleinen Häuser, sich finanziell über Wasser zu halten, indem sie komplexe und teure Operationen durchführen – die dann über die Fallpauschalen viel Geld einbringen. Die geplante Vorhaltepauschale ermöglicht ihnen, mit einer ganz normalen Grundversorgung auskömmliche Einnahmen zu erzielen. Für eine Geburt oder eine Blinddarm-OP sollte auch in Zukunft ein Krankenhaus in direkter Nähe zur Verfügung stehen. Aber komplexe Operationen wie ein Gehirntumor oder eine Lungentransplantation finden am besten in Kliniken statt, die darauf spezialisiert sind und wo die Überlebenschance am höchsten ist. Dafür nehmen die meisten Betroffenen schon heute gerne eine etwas weitere Anfahrt in Kauf.

Wie lässt sich der Mangel an Pflegekräften beheben? Die Deutsche Krankenhaus-Gesellschaft befürchtet: Selbst wenn Kliniken zusammengelegt werden, werden die Fachkräfte nicht zwangsläufig ­hinterherziehen.

Man darf Beschäftigte nicht als Spielfiguren sehen, die man von A nach B schieben kann, wenn eine Klinik verlegt oder geschlossen wird. Das sind alles Menschen mit einer persönlichen Geschichte, einer Verbundenheit zu einem Ort oder auch einer Klinik. Wenn ihre Häuser schließen, kann es sein, dass sie den Beruf verlassen. Außerdem wollen viele Beschäftigte schon jetzt ihre Arbeitszeit reduzieren. Das ist zum Teil auch ein Nebeneffekt der höheren Löhne, die politisch gewollt sind. Die Vergütung ist in den vergangenen Jahren gestiegen, sowohl in der Krankenhaus-Pflege als auch in der Langzeitpflege. Bisher hat das leider kaum dazu geführt, dass mehr Bewerberinnen und Bewerber kommen, sondern dazu, dass die Fachkräfte, die es schon gibt, ihre Arbeitszeit reduzieren. Aus verständlichen Gründen, denn so halten sie den anstrengenden Beruf vielleicht länger durch.

Leider steuern wir mit dem Fachkräftemangel sehenden Auges auf ein Desaster zu. Auch Zuwanderung aus den Philippinen oder Vietnam wird unser Problem alleine nicht lösen. Langfristig kann uns nur helfen, den Beruf attraktiver zu machen und die vorhandenen Kräfte viel effizienter einzusetzen. Das heißt: weniger Bürokratie, mehr Zeit für die Pflege am Bett. Und wir brauchen weitere Helferberufe. Wir brauchen Assistenzberufe, die im Bereich der Diagnostik eigenverantwortlich kompetente Vorarbeiten für Therapie­entscheidungen leisten. Wir müssen die hohe Pharmakompetenz der Apothekerinnen und Apotheker durch echte Mitentscheidungen bei der einzelnen Therapie viel mehr nutzen. Und auch Therapeuten und Therapeutinnen wissen oftmals besser, welche einzelne Behandlungsform Betroffenen optimal hilft. Kurz gesagt: die historische, umfassende Arztzentriertheit des deutschen Systems muss überwunden werden. Dann werden ­übrigens die Gesundheitsberufe für alle attraktiver.

Es gibt Pflegeheime, die schon jetzt auf eine Vier-Tage-Woche setzen. Kann das eine Lösung sein?

Ja – aber nur, wenn neue Leute dazukommen. Sonst konkurrieren die Anbieter weiter um dieselben Fachkräfte. Ich beobachte, dass sich die Entwicklung auch mit Geld nur eingeschränkt steuern lässt. Ein Hausarzt kann in einer schlecht versorgten Region wie der Uckermark viel mehr verdienen als in Berlin. Viele Ärztinnen und Ärzte bleiben trotzdem lieber in Berlin.

Der Bund plant ein „Kompetenz­zentrum Digitalisierung und Pflege“. Kann das dazu beitragen, die Pflegestrukturen in den Kommunen zu verändern?

Ich erwarte nicht, dass unser System durch digitale Lösungen komplett revolutioniert wird. Eher wird das, was ohnehin schon passiert, digitalisiert: etwa mit dem elektronischen Rezept. Punktuell mag es gelingen, dass die Pflegenden durch die Digitalisierung entlastet werden. Große Unternehmen und kleine Start-ups forschen und probieren vieles aus. Das trifft aber in Deutschland auf eine Gesellschaft, in der das menschliche Antlitz eine große Bedeutung hat. Ich möchte mich auch nicht von einem Roboter pflegen lassen. Damit bin ich prototypisch für zumindest größere Teile unserer Gesellschaft. Ich schließe aber nicht aus, dass die Entwicklung irgendwann einen Schub kriegt. Aber unsere Kultur ist eine andere als die japanische oder koreanische, wo die Digitalisierung der Pflege eine viel größere Akzeptanz hat.

Was können die Kommunen selbst tun, um die Gesundheitsversorgung und Pflegestrukturen für ihre Bürgerinnen und Bürger zu verbessern?

Zunächst wäre es gut, wenn die Landes- und Bundesebene den Kommunen mehr Möglichkeiten verschafften. Dazu hat die Ampel-Koalition einiges aufgesetzt. Ein Thema sind Gesundheitskioske – also niedrigschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote. Bundesweit sollen in der Perspektive 1.000 Gesundheitskioske aufgebaut werden. Es ist vorgesehen, dass die Kommunen entscheiden, wo ein Gesundheitskiosk entsteht – und nicht einzelne Krankenkassen. Außerdem sollen Kommunen mehr Handlungsmöglichkeiten bekommen, um kommunale medizinische Versorgungszentren einzurichten. Auch das Konzept der Gesundheitsregionen soll Kommunen viele neue Planungs- und Steuerungsoptionen geben. Im Bereich der Pflege insgesamt sollte die Kommune den Ausschlag geben, was vor Ort benötigt wird und wohin dann auch Gelder fließen. Dafür werben wir als ASG auch innerhalb der SPD.

Gibt es schon gute Modelle dafür?

Für Gesundheitskioske gibt es Konzepte und Erfahrungen in Städten wie Hamburg, Berlin, Köln oder Aachen; und auch das Thüringer Projekt erscheint spannend. Wir wollen das nicht standardisieren, aber der Bund muss schon einen gewissen Qualitätsanspruch gesetzgeberisch vorgeben – und dann auch die Krankenkassen verpflichten, das zu bezahlen. Die Kommunen sollen sich beteiligen, finanziell oder indem sie Räume zur Verfügung stellen. Wichtig ist auch, dass die Gesundheitskioske mit dem jeweiligen öffentlichen Gesundheitsdienst eng zusammenarbeiten, vor allem mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen.

 

Mehr zu Gesundheitskiosken in Thüringen:
demo-online.de/gesundheitskiosk

Zur Person: Boris Velter

Boris Velter ist seit 2017 Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheitswesen, kurz ASG. Im Bundesgesundheitsministerium ist er Chef der Leitungsabteilung (Abteilung L).

Velter kam 1967 in Augsburg zur Welt und lebt seit mehr als zwei Jahrzehnten in Berlin. Hier wurde er 2010 Landesvorsitzender der ASG. Mit dem Gesundheitssystem befasst er sich seit vielen Jahren hauptberuflich. 2006 bis 2010 arbeitete er für die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Von 2010 bis 2013 war er Referatsleiter für Arbeit, Gesundheit, Familie und Gesellschaft der Landesvertretung Brandenburgs beim Bund. Es folgten fünf Jahre als Staatssekretär in Berlin, unter anderem für die Gesundheitssenatorin. 2019 wurde Velter Sonderbeauftragter des Regierenden Bürgermeisters für Medizin und Forschung. Ende 2021 holte ihn Karl Lauterbach erneut ins Bundesministerium für Gesundheit. (CFH)