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ARD-Dokumentation zu Jugendämtern: „System ist am Limit”

Ein Dokumentarfilm des WDR zeigt: Viele Jugendämter arbeiten am Limit. Gründe sind Personalmangel sowie immer mehr Kinder und Jugendliche, die Hilfebedarf haben. Angesichts knapper Kassen gibt es wenig Hoffnung, dass die Lage besser wird.

von Uwe Roth · 16. Januar 2025
Wegweiser zu einem Jugendamt

Wegweiser zu einem Jugendamt

Der WDR hat eine Dokumentation mit Titel „Jugendämter in Not: Kinder in Gefahr?“ in die Mediathek gestellt. Es ist nicht die erste zu diesem Thema: Vor einem Jahr hieß die Doku „Jugendämter am Limit: die große Gefahr“. Der Sender hat zwischenzeitlich Belege für die behauptete Gefahren-Situation gesammelt. Dafür schickte er einen Fragebogen an 580 Jugendämter. Das entspricht für Deutschland einer vollständigen Abdeckung. Etwas über die Hälfte der Angeschriebenen antwortete.  

Die Auswertung der Zahlen hat bestätigt, was die Redaktion in Interviews mit Expert*innen wie Kerstin Kubisch-Piesk von der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialer Dienst erfahren hat: 90 Prozent der Ämter, die sich an der Befragung beteiligten, sind überlastet. 75 Prozent meldeten einen „akuten Personalmangel“. Immer öfter ziehen Mitarbeitende ihre persönliche Reißleine, in dem sie eine Überlastungsanzeige bei ihren Vorgesetzten einreichen. Häufig landen sie in einem längeren Krankenstand, der die Personalnot verschlimmert.

„Das System ist mehr als am Limit“

Die Autorin ließ in ihrer Doku zahlreiche Fachkräfte zu Wort kommen. Ihre Aussagen sind an Dramatik kaum zu überbieten: „Das System ist mehr als am Limit“ oder „eine noch nie dagewesene Krise“. Gewarnt wird vor „einem Zusammenbruch des Systems“. Es sind dieselben Aussagen wie im Beitrag vor einem Jahr. Die meisten Befragten wollten anonym bleiben, um keine Probleme mit Vorgesetzen zu bekommen.

Um zu zeigen, wie sehr Mitarbeitende herausgefordert sind, hat die Redaktion diesmal bereitwillige Jugendämter gesucht. Sie sollten ein Filmteam den täglichen Kampf gegen die knappe Zeit dokumentieren lassen. Die Bereitschaft war gering. Nur die Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen, Karin Welge (SPD), gab ihrem Amtsleiter Björn Rosigkeit für einen unverfälschten Einblick grünes Licht. In dem Jugendamt sind 20 Stellen unbesetzt.  

Die Kamera begleitete eine 28-jährige Sozialarbeiterin. 65 Familien betreut sie. Nun ist sie auf dem Weg in die Wohnung einer Mutter, deren achtmonatiger Sohn wegen eines gebrochenen Schlüsselbeins in der Klinik liegt. War der Sturz vom Wickeltisch ein Unfall, wie die Mutter behauptet, oder eine absichtliche Tat? Die junge Frau versucht es, im geduldigen Gespräch herauszufinden, hat dafür aber wenig Zeit. Später im Amt entscheidet sie mit zwei Kolleginnen, dass eine Inobhutnahme, also eine Wegnahme des Kindes, noch nicht angezeigt ist. Aber die Mutter bleibt unter verstärkter Beobachtung. Das kostet Zeit.

Immer mehr Kinder und Jugendliche aus Familien geholt

Die Zahl der Inobhutnahmen steigt deutschlandweit von Jahr zu Jahr: 2022 waren es 66.400, also 40 Prozent mehr als im Vorjahr. 2023 waren es bereits 74.000. Wegen Personalmangels rutschen Familien, in denen das Wohl der Kinder gefährdet ist, durchs System. Es gibt auch zu wenige Plätze, Pflegeeltern oder Heime, bei denen Kinder und Jugendliche notfalls untergebracht werden können. Es kommt vor, dass die Sachbearbeiter*innen in der Not Kinder für einige Nächte mit nach Hause nehmen, um ihnen eine Rückkehr in ihre konfliktbedrohte Familie zu ersparen.

Gleichzeitig steigt die Zahl der Meldungen beim Jugendamt, weil Fachkräfte im Kita- und schulischen Bereich im Gewaltschutz besser geschult sind. Über die Sozialgesetzbücher sind inzwischen Schutzkonzepte vorgeschrieben. Diese verlangen eine regelmäßige Fortbildung der Fachkräfte. So lernen sie, besser zu erkennen, ob ein Kind in seiner Familie gefährdet sein könnte. Nach dem am Mittwoch veröffentlichten zehnten Familienbericht steigt die Zahl der Alleinerziehenden mit Kindern unter 18 Jahren unaufhörlich: 2023 lag sie bei 1,7 Millionen. Das sind rund 20 Prozent aller Familien. 2021 waren es noch 1,5 Millionen Alleinerziehende gewesen. Der Anteil der Väter an Alleinerziehenden ist 2023 auf 18 Prozent gewachsen. Laut Statistischem Bundesamt lag er 2022 noch bei 15 Prozent. Kinder allein zu erziehen geht mit einer erhöhten Gefahr einher, mit der Aufgabe überfordert zu sein. Auch dann kommen die Jugendämter wieder zum Einsatz.

243 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt

Für die Ausstattung der Jugendämter sind die Kommunen verantwortlich. Unterstützung kommt von den Ländern und dem Bund – zu wenig, wie beispielsweise der Deutsche Städtetag beklagt. Im (vorläufigen) Bundeshaushalt 2025 sind 243 Millionen Euro für die Finanzierung des Kinder- und Jugendplans (KJP) vorgesehen. Das ist eben so viel wie 2024. Das Geld geht an die Bundesländer, die es an die Kommunen zur Finanzierung der Jugendämter weiterreichen sollen. Steigerungen gibt es bei der Bekämpfung der Kinderarmut, der Erhöhung von Kindergeld- und -Freibetrag sowie bei den Investitionen in die frühkindliche Bildung. Nicht aber für die Jugendämter. Die Enttäuschung groß. Die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Deutschen Bundestag, Ulrike Bahr (SPD), zeigt sich hingegen einigermaßen erleichtert. Bei den harten Haushaltsberatungen im Herbst hätte es auch eine Kürzung geben können. 

 

Die WDR-Dokumentation „Jugendämter in Not” ist unter diesem Link in der ARD-Mediathek abrufbar.

Autor*in
Uwe Roth

ist freier Journalist. Er ist Mitglied im Verein Deutsches Institut für Normung und dort im Redaktionskreis für eine DIN Einfache Sprache. Webseite: leichtgesagt.eu

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