Fünf Jahre nach Corona: Bundespräsident Steinmeier fragt nach den Lehren
Über die Nachwirkungen der Corona-Pandemie wurde am Freitag im Schloss Bellevue diskutiert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte zehn Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen eingeladen, ihre Erfahrungen zu schildern.
Amrei Schulz/Photothek
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Archivaufnahme vom 7. März 2025)
Fünf Jahre ist es her, dass Corona zu einer Pandemie erklärt und in Deutschland der erste Lockdown verhängt wurde. Das Virus hat das Land tiefgreifend verändert: Kitas und Schulen wurden monatelang geschlossen und Veranstaltungen abgesagt. Geschäfte, Gastronomie und Büros blieben leer, während die Krankenhäuser sich mit Patient*innen füllten. Über die gesellschaftlichen Nachwirkungen und Lehren aus dieser Zeit diskutierten am Freitag Gäste aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen.
Dazu eingeladen hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die fehlenden Begegnungen während der Pandemie seien auch eine große Belastung für die Demokratie gewesen, sagte er. Denn etwas Wesentliches habe gefehlt: „das permanente Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst“. Viele Narben seien geblieben, etwa weil Kinder ihre Freunde nicht sehen konnten. Manche hätten an ihrer Seele Schaden genommen. Gleichzeitig seien auch die Hilfsbereitschaft und das Engagement vieler Menschen überwältigend gewesen, rief das Staatsoberhaupt in Erinnerung.
Die Angst vor Ansteckung ist nicht verflogen
Das rund zweistündige Gespräch machte noch einmal deutlich, wie herausfordernd diese Zeit für viele Menschen war. „Rein wirtschaftlich war es das komplette Desaster“, erzählte zum Beispiel die Hotelinhaberin Katrin Andres. Um dann anzufügen: „Privat war es super.“ Ihre Familie habe während der Lockdowns endlich Zeit gehabt kennenzulernen, was es heiße, ein normales Familienleben zu führen. Im Hotel seien die Nachwirkungen der Pandemie immer noch zu spüren, etwa weil die Menschen vorsichtiger geworden seien und sich nicht mehr zu fremden Gästen mit an den Tisch setzen. Eine Erfahrung, die auch die Theaterleiterin Renate Heitmann gemacht hat: „Wir haben einen Teil unseres Publikums verloren.“ Viele Seniorinnen und Senioren würden nicht mehr ins Theater gehen.
Ralf Broß (parteilos), damals Oberbürgermeister von Rottweil, erzählte: In den Kommunen habe die Digitalisierung während der Pandemie enorm an Geschwindigkeit zugenommen. So könnten Gemeinderatssitzungen jetzt auch digital oder hybrid durchgeführt werden. Doch der politische Diskurs sei schwieriger geworden. Wissenschaftliche Ergebnisse würden nicht immer anerkannt und bei Veranstaltungen schwer nachvollziehbare Argumente herangezogen.
Der Infektiologe Leif Erik Sander bestätigte das: Die Polarisierung und Spaltung in unterschiedliche Lager sei durch den Ausnahmezustand der Pandemie „wie durch einen Katalysator befeuert worden“. Dazu habe auch die Flucht in soziale Medien beigetragen, wo Mitteilungen verkürzt und Antworten oft gereizt seien.
Mit Kreativität den Kontakt halten
Dennie Rufflett, der Präsident des Sportvereins FC Deetz, sorgte sich während der Lockdowns, den Kontakt zu den Kindern zu verlieren. „Der Mensch ist ein Gewöhnungstier, du musst dranbleiben“, lautet sein Credo. Also ließ er sich kreative Aktionen einfallen und verschickte zum Beispiel Tapferkeitsmedaillen per Brief an die jungen Vereinsmitglieder.
Vor ganz anderen Problemen stand Astrid Thiele-Jèrome als Leiterin eines Seniorenheims. Zu Beginn der Pandemie sei die Verunsicherung groß gewesen, „wir haben wahrscheinlich am Anfang sehr unstrukturiert gedacht“. Es sei schwierig gewesen, Schutzkleidung wie FFP2-Masken zu beschaffen. Immerhin sei es gelungen, dass die Seniorinnen und Senioren Kontakt zu ihren Angehörigen halten konnten: Diese durften sich im Garten aufhalten, während im Haus die bodentiefen Fenster aufgemacht wurden, sodass die Menschen sich sehen und hören konnten.
Krankenpfleger Thilo Rothfuß erlebte die verschiedenen Phasen der Pandemie unterschiedlich. Am Anfang habe die Belegschaft seines Krankenhauses viel Unterstützung gespürt. Auch der Zusammenhalt sei gut gewesen, Mitarbeitende aus anderen Bereichen halfen auf der Intensivstation aus. Bei weiteren Infektionswellen sei die schiere Anzahl der Verstorbenen emotional schwieriger zu verkraften gewesen, auch weil es nun vermehrt jüngere Patient*innen mit schweren Verläufen gegeben habe. „Es gibt ein inneres Level, was man aushalten kann“, sagte Rothfuß. Schließlich hätten die langen Dienstschichten, noch dazu in Schutzkleidung, bei vielen „zu einer absoluten Erschöpfung geführt“.
Mediziner*innen geben auf
Unterstützung kam von Menschen wie Amandeep Grewal. Er war damals Medizinstudent und wollte in einem Krankenhaus aushelfen, merkte aber, dass es keine funktionierende Vermittlung für Helfer*innen wie ihn gab. Deshalb gründete er die Plattform „match4healthcare“, die Kliniken und medizinisches Personal während der Krise vernetzte. Über in der Medizin tätige Menschen sagte er: „Die machen das nicht wegen des Geldes, sondern aus Verantwortung heraus“. Es sei schade, dass ihnen nicht die Möglichkeit gegeben werde, den Beruf besser auszuüben. Überbelastung und lange Arbeitszeiten führen dazu, dass viele Assistenzärzt*innen verbrannt würden und in andere Berufe wechselten.
Im Verlauf der Debatte im Schloss Bellevue kam immer wieder die Frage auf, was in einer künftigen Pandemie oder Krise besser laufen sollte. Nie wieder dürfe es passieren, dass Deutschland sich nicht selbst helfen kann, befand Patrick Hahnemann mit Blick auf Lieferschwierigkeiten. Er leitet einen ambulanten Pflegedienst und hatte im März 2020 keine Möglichkeit, kurzfristig Schutzausrüstung oder Desinfektionsmittel zu bestellen. Was ihn ebenfalls ärgerte: Mitarbeiter*innen, die sich nicht impfen lassen wollten – in seiner Einrichtung etwa 40 Prozent der Belegschaft – , seien lange Zeit im Unklaren darüber gelassen worden, ob ihnen ein Betretungsverbot droht. Bei ihm in Sachsen sei es letztlich nicht gekommen, in anderen Ländern habe es das aber gegeben.
Schulschließungen wirken nach
Negative und langwierige Folgen der Pandemie beklagte die Grundschulleiterin Maxi Brautmeier-Ulrich. „Man kann von Unterricht eigentlich nicht sprechen, wenn man den Kindern Materialien zur Verfügung stellt, die sie bearbeiten müssen“. Mit Maske Lesen und Schreiben zu lernen, gehe eigentlich gar nicht, weil das gesprochene Wort so wichtig sei. Anfangs seien die Lehrer*innen sehr kreativ geworden und über ihre Grenzen gegangen. „Aber irgendwann kam eine Phase: Wir können einfach nicht mehr.“ Das Vertrauen von Eltern und Kindern in die Schulen und das Bildungssystem sei nachhaltig gestört worden. Ängste und Sorgen seien gewachsen, und man könne auch gar nicht aufholen, „was da an Erfahrungen nicht stattgefunden hat“. Immerhin: Was die Digitalisierung betreffe, hätten die Schulen durch die Pandemie aufgerüstet. Die Kehrseite sei, dass die Kinder auch privat viel mehr Zeit allein mit ihren digitalen Endgeräten verbrächten.
Die Schulschließungen gehören bis heute zu den umstrittensten Maßnahmen in der Corona-Pandemie. Bundespräsident Steinmeier sagte während der Debatte, „im Prinzip bin ich dagegen“, diese könnten immer nur das letzte Mittel sein, wenn sonst nichts mehr gehe.
Vertrauen in Wissenschaft scheint zu sinken
Dem widersprach auch der Infektiologe Sander nicht, verwies aber auf eine schwierige Abwägung. Er erinnere sich an Tragödien auf der Intensivstation, wo schwangere Frauen verstorben seien. Später merkte er noch an: Die Wissenschaftler*innen hätten in der Regel nicht selbst empfohlen, die Schulen zu schließen oder eine Impfpflicht einzuführen, sondern lediglich versucht abzuschätzen, wie eine Maßnahme sich auf das weitere Pandemiegeschehen auswirken würde.
Nach Steinmeiers Beobachtung hat die Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen durch die Pandemie zugenommen. Er erlebe eine „Ignoranz wissenschaftlicher Evidenz“. Sander entgegnete, diese Tendenz habe schon vor der Pandemie bestanden, etwa bei Debatten zum Klimawandel. Corona habe sie aber befeuert. Er stellte klar, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach nur Meinungen seien. Bei Diskursen in der Wissenschaft „geht es um die Interpretation von Ergebnissen und nicht um das Ergebnis selber“. Deshalb sei es „schwierig“, dass Ansichten bis in die Mitte der Gesellschaft durchgedrungen seien, welche die Existenz des Virus oder die Wirkung von Impfungen infrage stellen.
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.