Gutachten: Abschaffung der Stichwahl rechtswidrig
Die geplante Abschaffung der Stichwahl in Nordrhein-Westfalen ist rechtswidrig: Zu diesem Ergebnis ist ein neues Gutachten im Auftrag der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik (SGK NRW) gekommen. „Der Gutachter hat festgestellt, dass die Abschaffung der Stichwahl den verfassungsrechtlichen Anforderungen für eine Änderung des Wahlmodus nicht entspricht“, betonte Frank Baranowski, Oberbürgermeister von Gelsenkirchen und SGK Landesvorsitzender, bei der Vorstellung des Gutachtens vor der Landespressekonferenz.
Frank Baranowski: „Wir brauchen gute demokratische Basis und Verlässlichkeit“
„Wahlen brauchen eine gute demokratische Basis und Verlässlichkeit. Die Voraussetzungen der Wahlen dürfen nicht nach Belieben in kurzen Abständen verändert werden“, forderte Baranowski. Hintergrund: In NRW wie auch in anderen Bundesländern ist es Status quo, bei der Direktwahl eines kommunalen Hauptverwaltungsbeamten einen zweiten Wahlgang zu ermöglichen, falls es keine absolute Mehrheit eines Kandidaten gegeben hat.
Dann findet typischerweise eine Stichwahl zwischen den beiden besten Kandidaten statt. Betroffen sind Bürgermeister in den kreisangehörigen Gemeinden bzw. Oberbürgermeister in kreisfreien Städten sowie Landräte in den Kreisen. Nun will die schwarz-gelbe Landesregierung die Stichwahl-Regelung abschaffen.
Offener Brief an Ministerpräsident Laschet: Kritik an Abschaffung der Stichwahl
Mehr als 50 Bürgermeister haben sich der Kritik angeschlossen und Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) einen offenen Brief geschrieben, „um den Landtag NRW vor einem großen Fehler zu bewahren. Denn die Pläne zur Abschaffung der Stichwahl in NRW bergen aus unserer Sicht eine große Gefahr für die Demokratie in unserem Land“. Wer an der Spitze einer kommunalen Behörde steht, solle sich auf eine breite Legitimationsbasis stützen können, heißt es in dem Brief weiter.
Zu den Unterzeichnenden gehört auch Bürgermeister Rajko Kravanja aus Castrop-Rauxel. Er erinnert an die Analyse der Landesregierung 2014. Diese hatte festgestellt, dass die Stichwahl die demokratische Legitimation der Hauptverwaltungsbeamten stärke. „Der Landesgesetzgeber muss sich an seinen vorangegangenen Einschätzungen und Prognosen messen lassen“, so Kravanja. „Neue Fakten werden hierzu in der aktuellen Gesetzesbegründung nicht vorgetragen“, so Kravanja weiter. Der Verfassungsgerichtshof hatte die Abschaffung der Stichwahl im Jahre 2009 nicht uneingeschränkt für verfassungsgemäß erklärt, sondern dem Landesgesetzgeber Bobachtungspflichten auferlegt und damals ausdrücklich einen sachlichen Grund für die Abschaffung der Stichwahl gefordert.
Auswertung vergangener Stichwahlen
In dem Gutachten wurden die vergangenen Stichwahlen ausgewertet: Bei den letzten Bürgermeisterwahlen 2014 und 2015 haben demnach in 62 Städten und Gemeinden Stichwahlen stattgefunden. In 45 davon hatten am Ende die Gewählten in der Stichwahl mehr tatsächliche Stimmen als im ersten Wahlgang. „Das ist gelebte Demokratie, die Sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen opfern wollen“, so die (Ober-)Bürgermeister und Landräte.
Professor Frank Bätge von der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen ist Autor des Gutachtens. Er führt aus, dass eine Abschaffung der Stichwahl „einige systemimmanente Auswirkungen“ mit sich bringe, die aus demokratischen Gesichtspunkten als problematisch gewertet würden. Dabei wertete er auch Erkenntnisse aus der Zeit aus, als in den drei Bundesländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen die Stichwahl Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts jeweils kurzzeitig vom Landesgesetzgeber abgeschafft, aber nachfolgend wieder eingeführt wurde.
Argumente gegen Abschaffung der Stichwahl
Erstens sind bei einer relativen Mehrheitswahl mit einem Wahlgang der Wert vieler Stimmen, die den unterlegenen Kandidaten gewählt haben, bei Null. Bei der Stichwahl haben diese Wähler eine zweite Chance, sie können noch einmal ein Votum für ihre zweite Präferenz abgeben.
Zweitens werden Kandidaten zum Bürgermeister oder Landrat berufen, die im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit deutlich verfehlt haben. Zum Teil kommen dann Politiker ins Amt, die von unter 30 Prozent der Bevölkerung gewählt worden sind. „Es kommt dazu, dass die Summe der Wähler anderer Kandidaten, die dem Gewählten bei ihrer Wahl also ausdrücklich die Zustimmung verweigert haben, deutlich höher ist, als die Anzahl seiner Wähler. In der rechtswissenschaftlichen Literatur werden für solche Konstellationen durchgreifende verfassungsrechtliche Probleme gesehen im Hinblick auf die demokratische Legitimation dieser gewählten Kandidaten“, heißt es in dem Gutachten.
Und drittens gibt es, so das Gutachten, ein weiteres Problem, nämlich eine faktische Benachteiligung kleinerer Parteien und Wählergruppen durch ein solches System. Bei einer Abschaffung der Stichwahl können Wähler kleinerer Parteien oder Wählergruppen dazu neigen, taktisch zu wählen, also die Stimme nicht ihrem Wunschkandidaten, sondern einem anderen zu geben.
SPD will klagen
Die oppositionelle SPD will im Fall der Abschaffung der kommunalen Stichwahlen in NRW durch die CDU/FDP-Regierungsmehrheit vor den Verfassungsgerichtshof in Münster ziehen. Das kündigte SPD-Fraktionsvize Christian Dahm in Düsseldorf an.
Ralf Bauer
ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.