„Kindesentführung begegnet uns mindestens einmal am Tag“
Wenn Eltern sich um ihre Kinder streiten, werden die Konflikte oft über Landesgrenzen hinweg ausgetragen. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. hat eine Anlaufstelle eingerichtet. Ursula Rölke und Martina Döcker erklären, wie sie arbeitet.
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Wenn Eltern Konflikte austragen, werden die Kinder oft zu Leittragenden. Besonders kompliziert wird die Situation, wenn ein Elternteil das Kind außer Landes bringt.
Es passiert jedes Jahr mehrere hundert Mal: Eltern mit ungelösten Konflikten entführen ihre Kinder aus oder nach Deutschland. Welche besonderen Herausforderungen bringt das für die Behörden mit sich?
Eine solche Situation setzt alle Beteiligten unter großen Stress. Der zurückgelassene Elternteil sucht in dieser auch emotional schwierigen Lage dringend eindeutigen Rat und schnelle Hilfe. Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe haben das notwendige Wissen nicht unbedingt parat. Zu bedenken ist ja, dass ein anderes Land beteiligt ist, dass dessen Regeln ebenso wie eventuell geltende internationale Übereinkommen Einfluss auf die Situation haben. Und jedes Land und jede Situation sind anders. Hinzu kommt, dass die Fachkraft in der Regel keinen Zugang zum entführenden Elternteil hat – und damit weder dessen Sicht kennt noch diese im Gespräch beeinflussen könnte. Gleichzeitig ist gut informiertes Handeln besonders wichtig.
Der Deutsche Verein hat im Auftrag der Bundesregierung eine zentrale Anlaufstelle für solche Fälle geschaffen. Wer findet hier welche Hilfe?
Die „Zentrale Anlaufstelle für grenzüberschreitende Kindschaftskonflikte und Mediation“ (ZAnK) richtet sich sowohl an die Betroffenen selbst als auch an die Fachkräfte, die mit ihnen vor Ort arbeiten. Zum Beispiel aus der Kinder- und Jugendhilfe, Frauenhäusern, Beratungsstellen oder Polizei.
Die Webseite zank.de stellt für beide Gruppen Informationen bereit, was in verschiedenen Situationen zu beachten ist, angefangen von präventiven Möglichkeiten bis hin zur erfolgten Kindesentführung. Die Idee der Seite ist, dabei die verschiedenen Blickwinkel aufzunehmen. So wird auch der entführende Elternteil angesprochen.
Da wir wissen, dass jeder Einzelfall anders ist, bieten wir darüber hinaus Beratung an. Über das Kontaktformular auf der Webseite oder direkt per Anruf kann Kontakt zu uns aufgenommen und der Einzelfall mit einer unserer Fachkräfte besprochen werden. Das geschieht mittlerweile etwa 1.500-mal im Jahr.
Welche Menschen beraten Sie ZAnK? Was bewegt sie?
Sowohl die Personen als auch ihre Situationen sind ganz unterschiedlich. Das Thema Kindesentführung begegnet uns aber sehr häufig, eigentlich mindestens einmal pro Tag. Viele, die sich an uns wenden, sorgen sich, dass das andere Elternteil mit dem gemeinsamen Kind ins Ausland ziehen oder zurückkehren könnte. Diese Eltern befinden sich in einer Krisensituation und suchen nach Orientierung. Manchmal wenden sich Eltern auch erst sehr spät an uns. Sie sagen häufig, dass es gut gewesen wäre, sie hätten früher von dem Beratungsangebot gewusst.
Wie versuchen Sie, diesen Menschen zu helfen?
Wir versuchen eine rechtliche Einordnung zu geben und die Handlungsoptionen auszuloten. Dabei ist es wichtig zu wissen, ob das entführte Kind sich in einem Land befindet, das das Haager Übereinkommen unterzeichnet hat. Darin haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, daran mitzuwirken, dass Kinder nach einer Entführung wieder an ihren ursprünglichen Aufenthaltsort zurückkehren. Hier stehen die Chancen also besser, ein Kind zurückzuholen. Wir sorgen dafür, dass die Menschen umfassend informiert sind, damit sie abwägen können, welches Vorgehen in ihrer Situation ihrem Kind hilft.
Was raten Sie Eltern, die befürchten, dass ihr Kind entführt werden könnte?
Grundsätzlich ist es unmöglich, sich zu hundert Prozent abzusichern. Aber es hilft Eltern, sich gut zu informieren und ein paar Dinge zu beachten. Reist ein Elternteil zum Beispiel alleine mit dem Kind ins Ausland benötigt sie oder er eine schriftliche Zustimmung des anderen. Dabei sollte immer der genaue Zeitraum der Reise benannt und von beiden unterschrieben werden. Die Elternteile sollten die Pässe der Kinder immer an einem sicheren Ort aufbewahren. Wenn die Familie gemeinsam reist, sollten Eltern sich vorher informieren, wie das Kindschaftsrecht im jeweiligen Land aussieht. So gelten zum Beispiel in vielen Ländern mit arabischen Rechtsordnungen andere Regeln zum Sorgerecht. Wenn ein Elternteil akut Angst vor einer Kindesentführung hat, kann beim örtlichen Familiengericht eine Grenzsperre beantragt werden.
Welche Motivation steht dahinter, ein Kind ins Ausland oder nach Deutschland zu entführen?
Viele Betroffene schildern uns, dass sie im jeweiligen Land in einer sehr schwierigen Situation sind. Sie sorgen sich, nicht mehr gut zurecht zu kommen und in den eigenen Rechten beschnitten zu werden. Dann sehen sie den Ausweg darin, nach Deutschland zu kommen. Manchmal gibt es aber auch einfach das Bedürfnis, in das Heimatland zurückzukehren. Teilweise fürchten Betroffene, dass ihnen das Aufenthaltsbestimmungsrecht verweigert wird – und ohne die Zustimmung des anderen Elternteils können sie mit dem Kind nicht ausreisen. Dann kann es vorkommen, dass sie das Kind ohne diese Klärung mitnehmen.
Gibt es einen Grundsatz, der Sie bei Ihrer Beratung für ZAnK leitet? Was ist Ihnen als Beraterinnen wichtig?
Unsere grundsätzliche Idee bei ZAnK ist die der Prävention – damit es erst gar nicht zu einer Entführung kommt. Was uns bei jeder Beratung leitet, ist das Wohl des Kindes. Es steht immer im Mittelpunkt. Als Beraterinnen hören wir gut zu und versuchen, die Betroffenen so zu informieren, dass sie eine Handlungsorientierung für ihre individuelle Situation erhalten. Ich möchte sie in der Auseinandersetzung unterstützen. Besonders zufrieden sind wir mit einer Beratung, wenn es gelingt, die Perspektiven zu erweitern und an einer guten Lösung für das Kind zu arbeiten.
Welcher Fall ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Vor einiger Zeit meldete sich bei uns eine Mutter, deren Tochter mit eineinhalb Jahren von ihrem Vater entführt worden war. Seitdem hatte sie keinen Kontakt zu ihrem Kind, es gab damals keine Rückführung. Über die sozialen Medien wurde die Mutter nach Jahren plötzlich von der Tochter kontaktiert. Daraufhin machte sie sich auf den Weg, ihre mittlerweile 18-jährige Tochter zu treffen. Der Vater hatte ihr all die Jahre gesagt, dass die Mutter tot sei. Die Tochter beschloss wegen der Geschehnisse, nicht mehr beim Vater zu leben. Sie wollte zur Mutter nach Deutschland kommen. Wir haben die Mutter dabei unterstützt, auslandsrechtliche Fragen für die Familienzusammenführung zu klären und sie in der Beratung psychosozial begleitet. Mit 19 Jahren kehrte die Tochter schließlich zu ihrer Mutter und deren Familie nach Deutschland zurück.
Welche Auswirkungen haben solche Streitigkeiten für die betroffenen Kinder?
Konflikte belasten und verunsichern Kinder. Leider ist die Gefahr groß, dass ihre Bedürfnisse bei den Eltern aus dem Blick geraten. Man muss sich vorstellen, dass ein Kind bei einer Entführung vollkommen unvorbereitet aus seinem gewohnten Umfeld herausgerissen wird. Es kann sich nicht verabschieden, es weiß nicht, was passiert. Und es steht häufig in einem extremen Loyalitätskonflikt den Eltern gegenüber. Besonders wichtig für das Kind und seine Entwicklung ist es deshalb, dass der Kontakt zum „zurückgelassenen“ Elternteil fortbesteht. Und dass beide Elternteile dem Kind vermitteln, dass es keine Verantwortung trägt.
Was können Kommunen und Jugendämter tun, um länderübergreifende Kindschaftskonflikte präventiv zu vermeiden oder frühzeitig zu lösen?
Fachkräfte sollten sich ihrerseits frühzeitig informieren, wenn sie in einem Familienkonflikt einen Auslandsbezug wahrnehmen. Auf unserer Webseite finden sich viele Informationen, die Fachkräfte dabei unterstützen, abzuschätzen, ob wirklich ein Entführungsrisiko besteht. Denn manchmal können gut gemeinte Schutzmaßnahmen sogar zu einer Eskalation des Konfliktes führen. Auch hier beraten wir gerne.
Ursula Rölke ist Juristin und leitet den Internationalen Sozialdienst im Deutschen Verein, der ZAnK betreibt. Martina Döcker ist Sozialpädagogin und Supervisorin und hat die Beratung von ZAnK mit aufgebaut. Das Interview wurde schriftlich geführt.
Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. versteht sich als „Forum des Sozialen“. Zu den mehr als 2.000 Mitgliedern gehören zahlreiche Kommunen und Wohlfahrtsorganisationen. Die Arbeit des Deutschen Vereins wird vom Bundesfamilienministerium gefördert. Die Beratungsangebote von ZAnK sind kostenfrei.
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