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Kommunen sollen bei Verkehrsplanung mehr Spielräume bekommen

Das geltende Verkehrsrecht legt den Kommunen viele Fesseln an – zum Beispiel, wenn sie Tempo 30 ausweisen wollen. Die Ampel-Koalition will das Straßenverkehrsgesetz reformieren. Über die Anforderungen wurde bei einer Veranstaltung der SPD-Bundestagsfraktion diskutiert.
von Carl-Friedrich Höck · 24. November 2022
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Das deutsche Straßenverkehrsgesetz stammt aus einer anderen Welt. In Kraft getreten ist das Regelwerk im Jahr 1953. Damals waren 1,1 Millionen Pkw auf deutschen Straßen unterwegs, mittlerweile sind es 48,5 Millionen. Die autogerechte Stadt gilt längst nicht mehr als Zukunftsvision der Verkehrsplaner*innen. Das Verkehrsrecht erscheint heute vielen wie ein Relikt aus alten Zeiten. Die Ampel-Parteien haben im Koalitionsvertrag vereinbart, es zu reformieren.

Mehr Entscheidungsspielräume für Kommunen

Wörtlich steht dort: „Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen.“

Welche Anforderungen ein modernes Straßenverkehrsgesetz erfüllen muss, war am Mittwoch Thema einer Veranstaltung der SPD-Bundestagsfraktion. Die Resonanz war groß: Im Fraktionssaal fanden sich rund 100 Menschen ein, 200 weitere nahmen online teil – aus der Kommunalpolitik, der Landesebene und der Zivilgesellschaft. Das Motto lautete: „Mehr Kompetenzen für Kommunen“.

SPD will Gleichberechtigung für alle Verkehrsteilnehmenden

„Wir brauchen die Verkehrswende für mehr Klimaschutz, aber auch für mehr Lebensqualität in unseren Städten“, unterstrich Saarlands Ministerpräsidentin Anke Rehlinger. Das Verkehrskapitel im Koalitionsvertrag hat sie maßgeblich mitverhandelt. Sie verwies auch darauf, dass die Kommunen als Entscheidungsträger vor Ort immer wieder an Grenzen stießen. Zwar hätten sie mittlerweile einige neue Möglichkeiten, wenn sie zum Beispiel Tempo 30 vor einer Schule oder Kita anordnen wollen. Doch wenn sie einen Zebrastreifen an einer Ortsdurchfahrt anordnen wollten, würden sie immer wieder mit Verweis auf die aktuelle Rechtslage ausgebremst. „Das führt zu Frust und Enttäuschung“, so Rehlinger.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Mathias Stein erklärte, welche Punkte eine Verkehrsrechtsreform aus SPD-Sicht enthalten müsse. „Alle Verkehrsteilnehmenden müssen gleichberechtigt sein“, forderte er. Das Auto sei nicht mehr das Maß aller Dinge. Man müsse Menschen mit Beeinträchtigungen oder Kinder stärker in den Fokus nehmen. Radfahrende und Fußgänger*innen müssten besser geschützt werden. Dafür bräuchten sie Platz und eine gute Infrastruktur – und wo das nicht reiche, müsse auch die Geschwindigkeitsbegrenzung gesenkt werden.

Mehr als 300 Städte fordern Entscheidungsfreiheit

„Wir brauchen mehr Flexibilität und Beinfreiheit“, verdeutlichte Leipzigs Bürgermeister und Bau-Beigeordneter Thomas Dienberg. Gemeinsam mit anderen Städten gründete Leipzig im Juli 2021 die Initiative „Lebenswerte Städte durch angepasste Geschwindigkeit“. Sie tritt für mehr kommunale Entscheidungsfreiheit bei der Anordnung von Tempolimits ein. Diese ist vor allem auf Hauptverkehrsstraßen eingeschränkt. Der Initiative haben sich mittlerweile 336 Städte, Gemeinden und Landkreise angeschlossen, viele mit einem entsprechenden Ratsbeschluss.

Man wolle keine ideologische Diskussion, betonte Dienburg. Darum fordere das Bündnis auch nicht, 30 statt 50 km/h zur Regelgeschwindigkeit zu erklären. „Es geht um Flexibilität.“

Ein Beispiel nannte Kirsten Lühmann, Vizepräsidentin der Deutschen Verkehrswacht. In ihrer Heimatstadt Celle gebe es die Straße Heese – dort gelte grundsätzlich Tempo 50. Die Lärmgesetzgebung habe es der Kommune erlaubt, für einen Teil der Straße Tempo 30 auszuweisen, jedoch nur nachts. Danach gelte 500 Meter lang wieder Tempo 50, bis ein Seniorenwohnheim komme, an dem die Stadt 30 km/h anordnen durfte – aber nur tagsüber, denn nachts seien die Senior*innen im Bett. Mit Sicherheit habe das nichts zu tun, schimpfte Lühmann. „Da tun mir die Autofahrer leid. Die wissen nicht: Was ist da los?“

Stadtplanung soll Wege reduzieren

Lühmann erinnerte an die Vision Zero, also das Ziel, die Zahl der jährlichen Verkehrstoten von rund 3.000 auf nahezu null zu reduzieren. „Eigentlich müssten wir alles, was uns dieser Vision ein Stücken näherbringt, umsetzen.“ Dazu müsse auch die Stadtplanung verändert werden. Diese sei dem Prinzip gefolgt, verschiedene Zentren zu bauen: für Wohnen, fürs Einkaufen, fürs Arbeiten und für die Freizeitgestaltung. Man habe die Städte also so geplant, dass man viele Wege zurücklegen müsse. „Das war mal Mode“, so Lühmann. Mit der Zahl der Wege steige auch das Risiko für Verkehrsunfälle. Neue Quartiere sollten so gebaut werden, dass alles drin sei, so Lühmanns Appell: Wohnungen, Arbeitsplätze, Nahversorgungsmöglichkeiten, ein Anschluss an den ÖPNV, Kitas und Grundschulen.

Dass die aktuelle Rechtslage den Kommunen Fesseln anlegt, verdeutlicht auch ein anderes von Lühmann angeführtes Beispiel: die Friedrichstraße in Berlin. Die Stadt hat die beliebte Shoppingmeile zu einer Fußgängerzone umgewandelt. Laut einer Eilentscheidung des Berliner Oberverwaltungsgerichtes war das rechtswidrig. Die Straßenverkehrsbehörden könnten die Benutzung bestimmter Straßenstrecken nur aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten, begründete das Gericht den Beschluss.

Lühmann, die bis 2021 für die SPD-Fraktion im Bundestag saß, sagte dazu: „Ich will, dass wir die Lebenssituation der Menschen von heute abbilden können.“ Das funktioniere nicht mit Regelwerken und Prinzipien von gestern. Darin spielten Aspekte wie der Klimaschutz keine Rolle.

Gerichtsprozesse kosten Zeit und binden Personal

Das kritisierte auch Wolfgang Aichinger von der Denkfabrik Agora Verkehrswende. In den Kommunen würden unglaubliche Ressourcen vergeudet, meinte er. „Wir haben einen Fachkräftemangel, aber beschäftigen unsere Leute damit, dass sie vor Gericht begründen, warum sie Planungen machen.“ Diese Ressourcen könnten sie für eine moderne Verkehrsplanung und für den Klimaschutz viel besser einsetzen. Die Kommunen müssten schneller vorankommen beim Ausbau von Alternativen zum Autoverkehr.

„Der Verkehrssektor ist der einzige Sektor, der keinen Plan hat für die Einhaltung seiner Klimaschutzvorgaben“, merkte Aichinger an. Ändern soll das ein Expert*innenbeirat, der das Bundesministerium für Digitales und Verkehr berät. Konstituiert hat er sich im September, im kommenden Jahr sollen erste Ergebnisse vorliegen. Eine der Vorsitzenden des Beirates ist Meike Jipp, Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Ein entscheidender Faktor sei Zeit, erklärte sie auf der Veranstaltung der SPD-Fraktion. Wenn die Fahrt mit dem Auto langsamer werde und die mit dem Umweltverbund schneller, bestehe die Chance, dass die Menschen umsteigen.

Bisher lässt die von der Ampel-Koalition vereinbarte Verkehrsrechtsreform auf sich warten. Der zuständige Bundesminister Volker Wissing (FDP) hat noch keinen Entwurf für ein neues Gesetz vorgelegt. „Die Geschwindigkeit im Verkehrsministerium muss deutlich zunehmen“, sagte der SPD-Abgeordnete Stein zum Abschluss. Seine Fraktion wolle den Minister dabei unterstützen.

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