Leipzig und der Mauerfall: Gerade noch rechtzeitig
Ein Filmteam des DDR-Fernsehens dokumentiert im November 1989, wie schlimm es um die Stadt Leipzig bestellt war. Die Kamera zeigt Treppenhäuser, die Ruinen gleichen, und rußgeschwärzte Gründerzeitbauten mit undichten Dächern. Auch der spätere Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee erinnert sich an Szenen aus dem Film: „staubgeschwängerte Luft, zerfallende Fassaden, kontaminierte Flüsse, graue und freudlose Gesichter. Eine Stadt im Niedergang.“ Der Titel der Reportage: „Ist Leipzig noch zu retten?“
Die Friedliche Revolution sei gerade noch zum richtigen Zeitpunkt gekommen, meint Tiefensee. Wie die Stadt sich in den Jahren danach wandelte, konnte er als Akteur in der ersten Reihe miterleben: Ab 1990 als Schulamtsleiter, ab 1992 als Stadtrat beziehungsweise Beigeordneter für Jugend und Schule, schließlich von 1998 bis 2005 als Oberbürgermeister.
Leipziger Aderlass und Aufbau Ost
Für Leipzig war das Ende der SED-Herrschaft mit ihrer fehlgeleiteten Planwirtschaft eine Chance. Doch in den ersten Jahren ging es nicht nur aufwärts. Im Gegenteil. Tiefensee schildert die Lage so: „Industriearbeitsplätze sind weggefallen, die Arbeitslosenquote lag um 25 Prozent. Der Wegzug insbesondere der jungen Frauen nach 1990 war ein Aderlass, der bis heute nachwirkt.“ Als Amtsleiter musste er Kitas schließen und für sinkende Schülerzahlen planen. Abwasserleitungen hatten nicht mehr genug Durchfluss, weil die Bewohner fehlten. Zwischen 1990 und 1998 schrumpfte die Einwohnerzahl von 511.000 auf 437.000.
Aber der Aufbau Ost zeigte auch Wirkung, und zwar für jeden sichtbar. „Es standen 300 Kräne in der Stadt, es wurde saniert und gebaut“, erinnert sich Tiefensee. 1990 bröckelte fast überall der Putz ab und Dachziegel fielen herunter. „Nach drei Jahren waren schon zwei von zehn Häusern in der Straße saniert, zehn Jahre später waren es neun von zehn.“ Der im Jahr 2007 erschienene Bildband „Leipzig im Wandel“ belegt diese Schilderung. Auf 160 Seiten werden die Straßenzüge vor und nach der Sanierung gegenübergestellt. Stellenweise ist die Stadt kaum wiederzuerkennen.
Engagierte Bürger und eine „legendäre Fehlentscheidung”
Ohne europäische Fördermittel und das Geld, das über den Solidarpakt aus den alten Bundesländern geflossen ist, wäre diese Verwandlung nicht möglich gewesen, betont Tiefensee. Die dritte Quelle für den Aufbau sei das Engagement der Bürger selbst gewesen.
Wo große Umbrüche in kurzer Zeit stattfinden, gehen auch Dinge schief. Der Stadt Leipzig wurde eine undurchsichtige Rechtslage zum Verhängnis. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft LWB investierte Anfang der 1990er massiv in die Sanierung von Wohnungen, die sie treuhänderisch verwaltete. Später stellte sich heraus, dass viele davon privaten Eigentümern gehörten. „Eine legendäre Fehlentscheidung!“, sagt Tiefensee. Die Stadt habe einen Riesenberg an Schulden aufgehäuft, an dem sie wohl noch heute zu tragen habe. Etwa 400 Millionen Euro hat diese Panne die Stadt gekostet, fand ein Untersuchungsausschuss heraus.
Tiefensee setzte auf Ansiedlungen
Den Wendepunkt für die Entwicklung der Stadt datiert Tiefensee auf die Zeit um 2005. Seitdem wächst die Einwohnerzahl, Leipzig boomt. „Die Industrie ist aufgeblüht“, sagt Tiefensee, „während meiner Amtszeit spielen sicherlich einige große Ansiedlungen eine Rolle.“ Als Oberbürgermeister machte er das Anwerben von Unternehmen zur Chefsache, stellte dafür ein Team zusammen und schlich sich auch mal unerkannt in ein Autowerk ein oder arbeitete eine Schicht in einem Versandzentrum, um dem Unternehmen sein Interesse zu signalisieren. Gemeinsam mit der Landesregierung holte die Stadt BMW und Porsche nach Leipzig sowie DHL und Amazon. „BMW war ein Durchbruch“, sagt Tiefensee über das 2005 eröffnete Werk. Das habe international Aufmerksamkeit auf die Stadt gelenkt.
Heute kann man sagen: Die Friedliche Revolution hat die Sachsenmetropole gerettet. „Leipzig hätte unter dieser Planwirtschaft, unter dieser Diktatur keine Chance gehabt“, ist sich Tiefensee sicher. „So hat die Friedliche Revolution nahezu alle Lebensbereiche verändert. Überwiegend positiv.“ Doch es müsse auch über die Kehrseiten gesprochen werden: Die Arbeitslosigkeit, die Entwertung von Biografien, die Wegzüge vieler Menschen, die ganze Familien auseinandergerissen haben. „Das alles hat auch seine negativen Wirkungen bis heute“, sagt Tiefensee. „Wir spüren immer noch die Unterschiede zwischen Ost und West.“
Dieser Artikel stammt aus der DEMO-Ausgabe 03/04 2019.
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Das Leipziger Modell – Wie mit der Friedlichen Revolution eine Zeit des Aufbruchs in der Kommunalpolitik begann
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.