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Mit Läster-Botschaften zur neuen Stadtmarke von Reutlingen

Stadtmarketing anders: „Reutlingen kannst Du nicht mögen“, lästern XXL-Plakatwände. Plötzlich will Deutschland wissen, warum dem so ist. Oberbürgermeister Thomas Keck (SPD) erklärt das Konzept der ungewöhnlichen Werbeaktion.

von Uwe Roth · 25. Juni 2024
Stadt Reutlingen

Stadt Reutlingen

Von einem Tag auf dem anderen standen die Läster-Plakate überall im Stadtgebiet – an mehr als 150 Standorten. Die Claims darauf reine Provokation für die Stadtbevölkerung: „Nichts ist langweiliger als ein aufregender Tag in Reutlingen“, konnten Passanten lesen, oder „Das Reu in Reutlingen steht für bereuen.“ Oder: „Wir müssen leider mitteilen, du bist in Reutlingen.“ Um den Spott auf die Spitze zu treiben, wird jedes Plakat mit der Anmerkung abgerundet: „Reutlingen kannst Du nicht mögen“. 20 verschiedene Schmäh-Sprüche ließen sich die Werber*innen einfallen. Oberbürgermeister Thomas Keck war, wie er am Telefon sagt, „ein bisschen verunsichert“, als er die Plakate zum ersten Mal in voller Größe gesehen hat. Er musste schlucken. Dabei hat der SPD-Politiker sie selbst in Auftrag gegeben. „Ich war mir nicht sicher, ob ich das richtige tue.“

Zu spät: Die Schmäh-Werbung war nicht mehr aus dem Stadtbild zu bekommen, auch nicht die Erinnerung daran. Die Plakate gingen sofort viral. Auf der Plattform X wurde ein einziger Beitrag innerhalb von 24 Stunden über 500.000-mal aufgerufen, ein TikTok-Beitrag einer Reutlinger Nutzerin über 330.000-mal. Medien aus dem gesamten deutsch-sprachigen Raum interessierten sich für die seltsame Aktion des eigenen Stadtmarketings. Bürgermeister-Kolleg*innen schreiben ihm Mails, riefen ihn an und gratulierten ihm zu dem Erfolg. Einige wollten Details, um die Kampagne für die eigene Kommune zu kopieren.

Unzufriedenen die Schmäh-Plakate als Spiegel vorhalten

Der 61-Jährige ist seit fünf Jahren Rathauschef der 117.000 Einwohner-Stadt, die südlich von Stuttgart liegt. In jüngster Zeit sei ihm aufgefallen, so sagt er, dass sich der Hang der Stadtbevölkerung verstärkt habe, das Glas grundsätzlich als halbleer zu betrachten. „Das ist Jammern auf hohem Niveau. Den allermeisten Bewohnern geht es gut.“ So wollte er mit dem ungewöhnlichen Weg der Negativwerbung nicht nur die Außenwelt auf Reutlingen aufmerksam machen, sondern den Unzufriedenen in der Bevölkerung die Plakate als Spiegel vorhalten. Niemand könne wirklich behaupten, in Reutlingen sei alles schlecht. Dafür habe die Großstadt eine anerkannt hohe Lebensqualität.

Keck war nach den ersten Reaktionen sehr erleichtert. Aber das war erst die erste Phase, die zweite folge einige Tages später: Die Plakate wurden überarbeitet. Seither lautet der Claim in Gänze: „Reutlingen kannst Du nicht mögen. Nur lieben.“ Die positive Auflösung der Negativbotschaft beruhigte nicht zuletzt aufgeregte Gemüter. 25.000 Euro hat die Kampagne im ersten Anlauf gekosten, mitfinanziert vom örtlichen Gewerbe. Der Gemeinderat sei im Entscheidungsprozess nicht eingebunden gewesen, sondern lediglich informiert worden, so Keck. „Wir haben den Gemeinderat gebeten, die Aktion nicht vorzeitig auszuplaudern. Ansonsten wäre der Effekt verpufft.“ Er hat sich an die Bitte gehalten.

Örtliches Gewebe beteiligt sich an den Kosten

Anna Bierig ist Geschäftsführerin der Stadtmarketing und Tourismus Reutlingen GmbH (StaRT). Sie erklärt die Hintergründe: „Vor einigen Jahren haben wir uns auf den Weg gemacht, um die Geschichten zu Reutlingen zu finden, die zum einen genau zu uns passen und zum anderen Menschen für unsere Stadt begeistern.“ Dabei sei deutlich geworden, dass „Reutlingen oftmals eine Liebe auf den zweiten Blick ist, die sich hinter Vorurteilen und manchmal sogar unter einer Hass-Liebe zur eigenen Stadt verbirgt“. Nach den Plakatwänden sollen die Bürgerinnen und Bürger aktiv werden: Sie eingeladen, ihre Liebesgeschichte zu ihrer Stadt zu erzählen. Dafür hat die Stadt die Internetseite www.nurlieben.de.

Aus der Kampagne heraus soll schrittweise ein neuer Markenauftritt der Stadt Reutlingen entwickelt werden, sagt Bierig. Der Fokus werde auf die Gewinnung von Fachkräften für den wirtschaftsstarken Standort Reutlingen sowie die Förderung des Tourismus gelegt. OB Keck in der Kampagne auch das Potenzial, der AfD ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Deren Politik besteht doch nur daraus, den Leuten andauernd einzuhämmern, alles sei schlecht. Nichts bekomme der Staat hin.“ Die Sprüche der Kampagne zeigten, wie lächerlich solche pauschalen Schmähungen seien.

Autor*in
Uwe Roth

ist freier Journalist. Er ist Mitglied im Verein Deutsches Institut für Normung und dort im Redaktionskreis für eine DIN Einfache Sprache. Webseite: leichtgesagt.eu

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