Soziale Herkunft der Eltern wird weiter an Kinder vererbt
Trotz guter Wirtschaftslage bleibt der Anteil der armutsgefährdeten Kinder in Deutschland gleich. Sie sind in einem besonders hohen Maße der Gefahr ausgesetzt, von der Lebensweise, die als Minimum annehmbar ist, ausgeschlossen zu sein. „Gerade für eine reiche Volkswirtschaft wie Deutschland, deren wirtschaftliche Performance immer wieder gepriesen wird, ist das ein mehr als beschämender Befund", sagte Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Am stärksten seien Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und in Haushalten mit alleinerziehenden Müttern oder Vätern betroffen. Am gestrigen Mittwoch wurde der große Sozialbericht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), der Bundeszentrsle für politische Bildung (bpb) und dem statistischen Bundesamt gemeinsam vorgestellt.
Soziale Herkunft entscheidet über Gesundheit
Von der Geburt an haben Kinder aus ärmeren Familien schlechte Chancen, gesund aufzuwachsen. Etwa 30 Prozent ihrer Mütter rauchen während der Schwangerschaft – bei Müttern mit hohem sozioökonomischem Status sind es laut des Sozialberichts nur zwei Prozent. Auch im späteren Alter sind Kinder aus ärmeren Familien gesundheitlich benachteiligt. Sie leiden öfter an psychischen Problemen oder sind verhaltensauffällig. Sie treiben demnach zudem seltener Sport, ernähren sich ungesünder und sind häufiger übergewichtig.
Belastung durch Perspektivlosigkeit
Dem Bericht zufolge steigen die Chancen von Kindern auf hohe Bildungsabschlüsse, wenn die Eltern selbst einen hohen Bildungsstand haben. Im Jahr 2017 hatten 65 Prozent der Eltern von Gymnasiasten ebenfalls das Abitur oder die Fachhochschulreife. Nur sieben Prozent der Gymnasiasten wuchsen bei Eltern auf, die einen Hauptschulabschluss besaßen.
Außerdem variiert das subjektive Wohlbefinden von Schülern stark nach der Schulform. Hauptschüler empfinden den Schulbesuch als besonders belastend. Knapp die Hälfte von ihnen fand, dass es in der Schule nur wenige Dinge gebe, die ihnen wirklich Spaß machten. Dies könne beispielsweise an Perspektivlosigkeit und mangelnder Chancen, später einen guten Job zu finden, liegen, teilte Mareike Bünning, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, mit. Der ganze Bericht kann zum Beispiel hier abgerufen werden.
Ein gesellschaftliches Wir
36 Prozent aller Kinder in Deutschland verfügen über einen Migrationshintergrund. Angesichts dieser Zahl gehen Diskussionen darüber, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder nicht, vollkommen an der gesellschaftlichen Realität vorbei, sagte Krüger. „Es gilt, diese Pluralität und Heterogenität anzuerkennen und ernst zu nehmen", lauteten seine Worte.
Bei Kindern mit Migrationshintergrund ist das Risiko, von Armut gefährdet zu sein, fast dreimal höher als bei Kindern ohne Migrationshintergrund. Sie leben in Haushalten mit schlechterer finanzieller Ausstattung, auf weniger Wohnraum und sie besuchen seltener ein Gymnasiun, so Krüger. Die Mehrheitsgesellschaft solle sich verpflichtet fühlen, der Integration beizuhelfen und soziale Durchlässigkeit zu gewährleisten, fuhr er fort.
Wir brauchen ein „gesellschaftliches Wir“, verkündete Krüger. Denn gerade die Situation von schwächeren Mitgliedern einer Gesellschaft sei „ein wichtiger Gradmesser“ dafür, ob ein Land, das sich als soziale Marktwirtschaft begreift, seinen eigenen Ansprüchen gerecht werde. Es gelinge Deutschland nicht, seinen oft beschworenen ökonomischen Erfolg in eine nachhaltige Verbesserung der Lebensverhältnisse großer Gruppen der Gesellschaft umzuwandeln, sagte er.
Frühkindliche Bildung muss gefördert werden
Jedes drite Kind unter drei Jahren geht in diesem Jahr in die Kita oder zur Tagesmutter, heißt es in dem Bericht. 2008 waren es nicht einmal halb so viele. Allerdings gibt es erhebliche regionale Unterschiede bei der Betreuungsquote der Kleinkinder. So werden in Westdeutschland nur knapp 30 Prozent aller unter drei-Jährigen außer Haus betreut – in Ostdeutschland sind es rund die Hälfte.
Das in der UN-Kinderrechtskonvention verankerte Recht auf Bildung beinhaltet auch den Anspruch auf Chancengleichheit. Um dies zu verwirkichen und auch die Herausforderungen der Digitalisierung zu überwinden, sei ein stärkeres Engagement im Bereich der frühkindlichen Bildung nötig, meinte Krüger. Zwar habe die Politik durch das Bildungs- und Teilhabepaket und das Gute-KiTa-Gesetz erste Schritte in die richtige Richtung getätigt, es sei aber noch sehr viel mehr nötig. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt habe sich zwar in den vergangenen elf Jahren der Anteil der Ausgaben für Kindertageseinrichtungen erhöht, der Anteil der Ausgaben für Schulen sei aber vergleichsweise gesunken, erläuterte die Abteilungsleiterin im Statistischen Bundesamt Sibylle Oppeln-Bronikowski.
Um „die Eckpfeiler des demokratischen Bewusstseins“ – das Vertreten eines eigenen Standpunktes, die Diskussion und das Aushandeln von Kompromissen – früh genug einzuüben, solle Krüger zufolge politische Bildung schon im Grundschulalter vermittelt werden. So könne die spätere politische Teilhabe, die bei Personen aus sozial schwächeren Familien besonders niedrig ist, erhöht werden.
Klassenzugehörigkeit wird vererbt
2017 waren im Durchschnitt rund 15 Prozent aller Menschen unter 18 Jahren von Armut bedroht. Da Kinderarmut nicht ausschließlich materielle Armut sei, die meist zur sozialen Stigmatisierung führe, sei sie somit auch nicht nur mithilfe materieller Leistungen zu lösen. „In Armut lebende und von Armut gefährdete Kinder und Jugendliche entbehren teils essenzielle Dinge: ausreichende und angemessene Ernährung, gute Gesundheitsvorsorge, angemessene Wohnverhältnisse, passende Kleidung oder die Möglichkeit zur Teilhabe an Kultur- und Freizeitaktivitäten", erklärte Krüger. Dass Bildungschancen in Deutschland immer noch erheblich von der sozialen Herkunft abhängen, zeige, „dass Klassenpositionen immer noch vererbt werden“, so Krüger. In Zeiten, in denen Gruppen „völkische Agenda“, „subjektive Wahrnehmungen“ und „diffuse Gefühle“ gegenüber einzelnen Gruppen „zum Gradmesser politischer Willensbildung erklären wollen, scheint eine Publikation wie der Datenreport wichtiger denn je“, lauteten Krügers Schlussworte.
Der Artikel ist zuerst auf vorwärts.de erschienen
studiert Geschichte und Deutsche Literatur und ist Praktikantin in der Redaktion des vorwärts von Oktober bis Dezember 2018.