Warum Kommunen ihre NS-Vergangenheit aufarbeiten sollten
Wilhelm Walther via commons.wikimedia.org
Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, blieb ein großer Teil des Beamtenapparates im Amt. Wohl auch deshalb hat die Geschichtswissenschaft lange Zeit übersehen, welch zentrale Rolle Stadt- und Gemeindeverwaltungen für die NS-Verfolgungspolitik gespielt haben. Noch heute ist das Thema in vielen Kommunen kaum aufgearbeitet.
Zwei Bürokratien standen in Konkurrenz zueinander
Rückblick: In den 1960er Jahren untersuchte der Historiker Hans Mommsen die Rolle der Beamtenschaft im Dritten Reich. Er richtete den Blick auf den Dualismus zwischen Staat und Partei, also auf die Doppelstrukturen im NS-System. Viele Institutionen und Funktionen gab es zweifach. Die Bundesländer existierten weiter, gleichzeitig teilte die NSDAP das Reich in Gaue und bestimmte Gauleiter. Auf kommunaler Ebene sah es ähnlich aus. Das galt auch für übergeordnete kommunalpolitische Organisationen: Neben dem staatlichen „Deutschen Gemeindetag“ gab es in der NSDAP das „Hauptamt für Kommunalpolitik“.
Mommsen kam zu dem Schluss, dass Hitler das Verhältnis von Staat und Partei nie ganz geklärt habe. Das habe zu inneren Spannungen geführt. In der Folge wurde oft angenommen, es habe einen Gegensatz zwischen „gemäßigter“ Staatsbürokratie und „radikaler“ Parteibürokratie gegeben.
Kommunen handelten oft proaktiv
Die Erkenntnis, dass das ein Irrtum war, setzt sich erst seit den 1990er Jahren zunehmend durch. „Es gibt wohl kaum eine Verfolgungsmaßnahme, bei der kommunale Stellen nicht einbezogen oder wenigstens darüber unterrichtet gewesen wären“, kommentierte der Historiker Rüdiger Fleiter 2007 in einem Beitrag für die Zeitschrift „APuZ“.
Die Städte und Gemeinden entließen Mitarbeiter aus rassistischen und politischen Gründen, sie trieben die Verfolgung von Jüdinnen und Juden voran, sie organisierten Deportationen und die „Arisierung“ jüdischer Besitztümer. Gesundheitsämter sterilisierten sogenannte „Erbkranke“, Sinti und Roma wurden von der Stadtverwaltung aus ihren Wohnungen vertrieben, später beteiligten sich die Bauämter aktiv an Zwangsarbeit. Wirtschafts- und Ernährungsämter teilten die Lebensmittelrationen zu, auch für Gefangene in den Konzentrationslagern – somit wussten sie sehr genau, was im Reich vor sich ging.
Zwei Erkenntnisse hob Fleiter hervor. Erstens: Jedes kommunale Amt war in irgendeiner Weise in die Verfolgungspolitik der Nazis involviert. Zweitens: Kommunale Beamte und Angestellte haben ihre Handlungsspielräume häufig nicht zugunsten der Verfolgten genutzt, sondern sind vielfach noch über die Anweisungen „von oben“ hinausgegangen. Teils dachten sie sich eigene Verfolgungsmaßnahmen aus, es kam deshalb sogar zu Rügen der Aufsichtsbehörden. Und das selbst in Städten wie Hannover, wo 1933 kein NSDAP-Mitglied an die Stadtspitze gestellt wurde, sondern der konservative Oberbürgermeister Arthur Menge bis 1937 im Amt blieb.
Konferenz rückte Rolle der Kommunen in den Fokus
Was Fleiter ausführlich am Beispiel Hannover dokumentiert hat, lässt sich auch für andere Städte bestätigen. Das zeigte im Jahr 2017 eine Fachtagung „Kommunen im Nationalsozialismus“ in Villingen-Schwenningen. Der Leiter des Stadtarchivs Konstanz, Jürgen Klöckler, berichtete dort: Die Konstanzer Stadtverwaltung war Treibende und nicht Getriebene des Nationalsozialismus. Und dies, obwohl nach der Machtübernahme der Nazis von 15 Amtsleitern 13 in ihrer Funktion geblieben waren.
Ähnliches berichtete Ernst Otto Bräunche, damals Leiter des Stadtarchivs Karlsruhe. Hier griff die Gauleitung massiv in die Stadtentwicklung ein. Bei den Terrorakten und Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung habe die Stadt eine traurige Spitzenrolle eingenommen, so Bräunche. Der Freiburger Historiker Robert Neisen verglich die Rolle der Bürgermeister in Schwenningen und Villingen. Er kam zu dem Fazit, dass ein verwaltungserfahrener Bürgermeister ohne NSDAP-Parteibuch – wie Schwenningens Rathauschef Otto Gönnenwein (ehemals DVP) – dem NS-System sogar mehr genützt haben könnte als ein fanatischer Partei-Karrierist.
SPD-Bürgermeister wurden aus dem Amt gejagt
Die Stadtverwaltungen waren also im Regelfall kein Hort des Widerstandes. Allerdings hatten die Nazis auch gleich zu Beginn ihrer Herrschaft deutlich gemacht, wie sie mit andersdenkenden Kommunalpolitikern umgehen. Das bekamen nicht zuletzt Sozialdemokraten und Kommunisten zu spüren.
Zwei Beispiele: Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Kreuzberg, der jüdische SPD-Politiker Carl Herz, wurde am 10. März 1933 von der SA aus dem Rathaus geholt, öffentlich gedemütigt und misshandelt. Einige Monate später wurde er auch offiziell abgesetzt. Sein sozialdemokratischer Amtskollege im Bezirk Prenzlauer Berg, Otto Ostrowski, wurde im März 1933 von der SA verhaftet und als Bürgermeister entlassen.
Aus dem Amt entfernt wurde 1933 auch der sozialdemokratische Bürgermeister der oberbayerischen Stadt Penzberg, Hans Rummer. Sein Widerstandsgeist blieb ungebrochen. Am 28. April 1945 folgte er einem Aufruf der „Freiheitsaktion Bayern“, nahm sein Amt wieder ein, rettete hunderte Zwangsarbeiter – und wurde daraufhin von Werwolf-Einheiten erschossen. Zwei Tage, bevor die US-Armee die Stadt befreite.
Kempten lässt eigene Geschichte erforschen
Laut einer Recherche des Bayerischen Rundfunks beginnen viele Kommunen erst jetzt damit, ihre NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. In Kempten (Allgäu) hat die Stadtverwaltung 300.000 Euro zur Verfügung gestellt, um die eigene Rolle im Nationalsozialismus zu untersuchen. Dafür hat die Stadt einen Vertrag mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin unterzeichnet. Auf zweieinhalb Jahre ist das Forschungsprojekt angelegt. Nicht allen gefällt es, dass die Vergangenheit neu beleuchtet und bewertet wird. Das geht aus kritischen Zuschriften hervor, die wegen des Projektes im Rathaus eingehen.
Doch wer verstehen will, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland passiert ist, muss auch die Kommunen in den Blick nehmen. Die Leiterin des Kemptener Forschungsprojektes, Martina Steber, sagte dem BR: „Der Nationalsozialismus, das hat die Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt, kam mitten aus Stadtgesellschaften heraus, das gilt für Kempten genauso wie für andere Städte, Gemeinden und Dörfer im ganzen Reich.“
Quellen:
- Rüdiger Fleiter in APuZ (2007): bpb.de
- Bericht zur Tagung in Villingen-Schwenningen 2017 auf dem Fachportal H/Soz/Kult: hsozkult.de
- Bericht des BR zum Projekt in Kempten: br.de
- Ebenfalls dazu: kempten.de
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.