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Was sich aus der Geschichte des Plattenbaus lernen lässt

Modulare Bauweisen sollen helfen, den Mangel an Wohnungen zu beheben. Früher hieß das Plattenbau – doch der ist heute in Verruf geraten. Warum? Der Architekt und Verleger Philipp Meuser erklärt, was falsch lief und heute besser gemacht werden kann.

von Carl-Friedrich Höck · 9. Oktober 2024
Fünf Frauen stehen mit Stiften und Zetteln vor einer Plattenbausiedlung

1974 wurde der Grundstein für die Fritz-Heckert-Siedlung in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) gelegt. Mittlerweile wurde ein Drittel der Wohnungen wieder abgerissen.

DEMO: Plattenbauten haben heute einen schlechten Ruf. Doch einst waren sie begehrt. Was waren die Gründe für den Plattenbau-Boom in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg?

Philipp Meuser: Die Leute wollten nach dem Krieg aus den Notunterkünften raus. Auch viele Altbauten, die den Krieg überlebt hatten, waren in keinem guten Zustand. Die Plattenbauten waren damals nichts anderes als Neubauwohnungen. Dass sie nun in industrieller Bauweise gefertigt wurden, war Teil des Zeitgeistes. In anderen Bereichen wie dem Automobilbau hatte sich das schon seit den 1920er Jahren etabliert. Und es gab einige findige private Bauunternehmer, die das Prinzip weiterentwickelt hatten, um die industrielle Vorfertigung auch auf den Wohnungsbau zu übertragen.

Plattenbausiedlungen entstanden sowohl in Ost- als auch Westdeutschland. Gab es Unterschiede in der baupolitischen Herangehensweise?

Natürlich. Westdeutschland war weitgehend privatwirtschaftlich organisiert, auch wenn der Staat über den sozialen Wohnungsbau viel Geld in den Markt investiert hat. In Ostdeutschland ist der Wohnungsbau zunehmend verstaatlicht worden. Das heißt: Der Staat hat die Vorgaben gemacht, was gebaut werden soll und in welcher Menge. Die Bauindustrie war ebenfalls verstaatlicht, dort wurden große Baukombinate geschaffen. Beides waren Grundvoraussetzungen, damit der Plattenbau überhaupt in diesem Maße realisiert werden konnte. Er war die dominierende Baukonstruktionsweise in der DDR.

Der Gesprächspartner

Philipp Meuser ist Architekt und Experte für Architekturgeschichte. Für seine Verdienste um den baukulturellen Austausch mit Osteuropa erhielt er 2017 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Im Jahr 2005 gründete Meuser den Architektur-Verlag DOM publishers. Dort ist das von ihm herausgegebene zweibändige Buch „Vom seriellen Plattenbau zur komplexen Großsiedlung Industrieller Wohnungsbau in der DDR 1953 –1990“ erschienen.

Porträtfoto Philipp Meuser

Was waren aus damaliger Sicht die großen Vorteile der Plattenbauweise?

Wenn man über den Plattenbau spricht, muss man zwei Aspekte unterscheiden: Es gibt das serielle Planen und es gibt die industrielle Vorfertigung. Serielles Planen bedeutet, dass man Typengrundrisse entwickelt. Diese Typengrundrisse gibt es dann als Zwei-, Drei-, oder Vierraumwohnungstyp. Die können dann in den Grundriss für ein Haus eingearbeitet werden. Und weil alles typisiert war, konnte man die Wohnungsteile in großer Menge industriell vorfertigen. Man erhoffte sich den Vorteil, dass man schneller, kostengünstiger und trotzdem mit guter Qualität bauen kann. Diese Grundidee gilt bis heute. Zum Beispiel in der Autoproduktion: Sie ist durch und durch standardisiert und typisiert, auch wenn uns die Werbung suggeriert, dass wir etwas ganz Individuelles kaufen.

Weshalb sind die Plattenbauten dann so in Verruf geraten?

Zum einen sind sie zu einer Projektionsfläche geworden für alles, was im Staat und der Gesellschaft falsch gelaufen ist. Standardisierung bedeutete auch Gleichheit – das passte zur sozialistischen Ideologie. Die eigentlichen Probleme lagen aber woanders: Die DDR wollte immer mehr produzieren, hat auch beim Bauen die Quoten erhöht, während gleichzeitig das Geld zunehmend ausging. Also wurde vereinfacht, es wurden Standards gesenkt und günstigere Baumaterialien eingesetzt. Dazu kam der Fachkräftemangel in der DDR, weil die besten Leute abwanderten. Bis heute ist die industrielle Vorfertigung zumindest in der Theorie eine gute Möglichkeit ist, die Wohnungsnot zu lindern. Aber damit das funktioniert, braucht man ein perfekt organisiertes Uhrwerk mit Personen, die das gut steuern können. Und das ging in der DDR zunehmend verloren.

Das Chemnitzer Fritz-Heckert-Gebiet ist vor wenigen Tagen 50 Jahre alt geworden. Ab 1974 entstanden hier rund 32.000 Wohnungen – innerhalb von 16 Jahren. Sind Bauprojekte in dieser Größe und mit diesem Tempo heute noch vorstellbar?

Ja. Deshalb wird auch wieder neu darüber diskutiert. Bundeskanzler Olaf Scholz hat im vergangenen Jahr gefordert, Neubausiedlungen auf der grünen Wiese zu errichten. Technisch und finanziell ist das machbar. Die Frage ist nur: Unter welchen Voraussetzungen macht man das? Viele DDR-Großsiedlungen waren überwiegend Schlaf-Orte. Wenn man heute neue Stadtteile bauen will, muss man die ganze Infrastruktur mitdenken. Damit meine ich nicht nur Schulen, Kitas und Krankenhäuser, sondern auch Raum, in dem urbanes Leben stattfinden kann. Wenn ich das alles innerhalb von fünf Jahren hochziehe, habe ich aber keine gewachsene soziale Struktur. Der neue Stadtteil wirkt dann sehr künstlich und muss erstmal mit Leben gefüllt werden. Deshalb spricht vieles dafür, punktuell Neubauten dorthin zu setzen, wo sich schon Nachbarschaften eingelebt haben. Übrigens ist das kein Grund, auf Plattenbauweisen zu verzichten. Es gibt heute die Möglichkeit, durch den Einsatz von digitalen Management-Tools vorgefertigte Bauteile auch ganz individuell in kleine Baulücken hineinzusetzen. Früher gab es in eine große Stahlform, mit der immer nur die gleiche Platte produziert werden konnte. Heute können sie jede Platte individuell herstellen. Das ist wie bei den Lego-Baukästen: Früher sahen alle Steine gleich aus, heute haben sie ganz unterschiedliche Elemente.

Im Jahr 2024 herrscht erneut Wohnungsmangel – und Bundesbauministerin Klara Geywitz will modulare Bauweisen fördern, damit Bauen wieder schneller und günstiger wird. Was lässt sich aus den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte lernen?

Erstens brauchen wir eine Musterbauordnung. Denn jedes Bundesland hat eine eigene Bauordnung mit eigenen Anforderungen, etwa zum Brandschutz oder zur Länge der Rettungswege. Deshalb ist es einem Bauunternehmer kaum möglich, einen seriellen Wohnungsbautyp zu entwickeln, den er dann in allen 16 Ländern bauen kann.

Zweitens wäre es von Vorteil, wenn wir Modulbauten entwickeln, die in 50 Jahren auch wieder demontiert werden können. Und wir sollten auf Baumaterialien setzen, die einen geringeren CO2-Abdruck haben. Beides könnte die Politik über Förderprogramme steuern – und auch die Bauindustrie sehe ich hier in der Pflicht. Bisher neigen Architekten dazu, lieber konventionelle Materialien zu verbauen als experimentelles und klimafreundlicheres Material, das vielleicht noch gar nicht in den Bauordnungen zertifiziert ist und den DIN-Normen entspricht. Schließlich haftet der Architekt, wenn am Ende doch etwas schief geht, weil jemand eine innovative Strohdämmung falsch eingebaut hat und sie nass wird.

Mein dritter Punkt: Wir müssen eine Diskussion dazu führen, wie wir Standards reduzieren können. Das Bauen ist auch wegen der vielen Regularien so teuer geworden. Dieses Thema ist ein sozialpolitisches Pulverfass. Wenn jemand sagt: „Lasst uns im kommunalen Wohnungsbau ein paar Abstriche beim Schallschutz zu machen – dann hören Sie zwar den Nachbarn auch mal übers Parkett laufen, dafür ist die Miete zwei Euro billiger“, führt das sicher zu kontroversen Diskussionen. Trotzdem sollten wir die Herangehensweise vielleicht einmal umdrehen und zuerst festlegen: Was soll die Miete im Neubau maximal kosten? Und dann klären wir, was die Bauindustrie für diesen Preis anbieten kann. In meinem Alltag als Architekt läuft es oft genauso. Da sagt der Bauherr: So viel kann ich zahlen und keinen Euro mehr. Dann muss ich mich bei meinen Entwürfen eben disziplinieren.

Autor*in
Porträtfoto Mann mit Brille und dunkelblonden Haaren
Carl-Friedrich Höck

ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.

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