Zahl der Wohnungslosen drastisch gestiegen
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W) geht davon aus, dass die Zahl der Menschen ohne Wohnung innerhalb von zwei Jahren um circa 150 Prozent gestiegen ist. Das gab Geschäftsführer Thomas Specht am Dienstag bekannt. Weil es keine bundesweite offizielle Wohnungslosen-Statistik gibt, beruhen die Zahlen auf einer Schätzung der BAG-W.
Geflüchtete bleiben in Gemeinschaftsunterkünften
Ein Grund für den drastischen Anstieg sind die vielen anerkannten Flüchtlinge ohne Wohnung, die seit 2016 in die Schätzung mit einbezogen werden. Die BAG-W geht von 440.000 wohnungslosen Geflüchteten aus. In der Regel würden diese Menschen weiterhin den Gemeinschaftsunterkünften geduldet, erläuterte Thomas Specht.
Doch auch ohne die Geflüchteten wäre die Zahl der Wohnungslosen deutlich gestiegen. Rechnet man diese Gruppe heraus, waren es im Jahr 2016 immer noch 420.000 Wohnungslose – 85.000 mehr als zwei Jahre zuvor.
Etwa jeder zweite Obdachlose stammt aus dem EU-Ausland
52.000 Menschen haben gar keine Unterkunft, leben also als Obdachlose auf der Straße. Specht nennt sie „die Spitze des Eisberges, den sichtbaren Teil des Problems“. Die übrigen Wohnungslosen leben zum überwiegenden Teil in kommunalen Notunterkünften, teils auch in Übergangswohnungen oder Heimen der Freien Wohlfahrtspflege.
Circa 50.000 Wohnungslose sind Bürger anderer EU-Staaten. Etwa jeder zweite von ihnen lebt auf der Straße. Somit macht diese Gruppe insbesondere in Großstädten rund 50 Prozent der Obdachlosen aus.
BAG-W sieht Politik in der Pflicht
„Die Zuwanderung wirkt zwar verstärkend, aber die wesentlichen Ursachen für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland, in Verbindung mit der unzureichenden Armutsbekämpfung“, meint Thomas Specht. Der Bestand an Sozialwohnungen sei in den vergangenen Jahrzehnten deutlich geschrumpft, zudem hätten Kommunen, Bund und Länder eigene Wohnungsbestände privatisiert. Insgesamt fehlten in Deutschland mindestens 11 Millionen kleine Wohnungen mit ein bis zwei Zimmern.
„Die Kommunen müssen gezielte Maßnahmen ergreifen, um bereits wohnungslose Haushalte wieder mit eigenen Wohnungen zu versorgen“, fordert die stellvertretende BAG-W-Geschäftsführerin Werena Rosenke. Notwendig seien Quoten für die Vermietung von geförderten Wohnungen an wohnungslose Menschen. Zudem sollten flächendeckend kommunale Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungsverlusten aufgebaut werden. Die künftige Bundesregierung müsse hierfür ein Förderprogramm einsetze, so Rosenke. Darüber hinaus fordert die BAG-W, dass künftig keine Hartz IV-Empfänger mehr sanktioniert werden, indem der Staat ihnen die Zahlungen für Unterkunft und Heizung kürzt.
Die Kommunen müssten die 50.000 auf der Straße lebenden Menschen unterbringen und medizinisch versorgen, betont Werena Rosenke. Das müsse „eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein“. Nach dem Ordnungsrecht seien die Kommunen auch verpflichtet, ausreichend Unterkünfte vorzuhalten. Dass dies zum Beispiel in einigen Berliner Bezirken nicht geschehe, hält Rosenke für rechtswidrig.
Das Problem verschärft sich weiter
Weil keine ausreichenden Gegenmaßnahmen getroffen worden seien, geht die BAG-W davon aus, dass die Zahl der Wohnungslosen noch weiter zunehmen wird. Im Jahr 2018 werde es 1,2 Millionen Wohnungslose in Deutschland geben, prognostiziert Geschäftsführer Specht.
Seit Jahren fordert die BAG-W die Einführung einer bundesweit einheitlichen Wohnungslosen-Statistik. Jedoch verschließe die Politik die Augen vor dem Ausmaß des Problems, kritisiert Thomas Specht. Als Beispiel erzählt er eine Anekdote aus dem Jahr 2011, als er mit dem damaligen Staatssekretär im Bundesbauministerium Jan Mücke (FDP) gesprochen habe. Auf die Frage, warum der Bund sich gegen eine Wohnungslosenstatistik sperrt, habe dieser geantwortet: Wenn der Bund die Statistik veröffentlicht, würden die Leute ja denken, dass der Bund auch dafür zuständig sei die Wohnungslosigkeit zu beseitigen. Aus Spechts Sicht eine entlarvende Bemerkung, denn natürlich könne der Bund einen Fonds einrichten oder das Sozialhilfeniveau steuern. Der Kampf gegen die Wohnungslosigkeit sei „eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden“, betont Specht.
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.