Aktuelles

„Knapp drei Millionen Kinder leben in suchtbelasteten Familien”

Sucht in Familien ist immer noch ein Tabuthema. Eine Aktionswoche soll betroffenen Kindern mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Stephan Kosch vom Verein NACOA Deutschland erklärt, wie Kommunen sie unterstützen können.
von Carl-Friedrich Höck · 21. Februar 2024
Bei der Auftaktveranstaltung zur diesjährigen Aktionswoche war der Sänger Max Mutzke (links) als Schirmherr dabei – auch er hatte eine suchtkranke Mutter.

Stephan Kosch ist bei NACOA Deutschland e. V. für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Der Verein ist eine Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien.

DEMO: Aktuell läuft eine Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien. Worum geht es da?

Stephan Kosch: Wir organisieren diese Aktionswoche seit 15 Jahren. Knapp drei Millionen Kinder leben in suchtbelasteten Familien. In der Regel sind also in jeder Klasse, in jeder Jugendgruppe vier bis fünf betroffene Kinder. Aber kaum jemand weiß das, weil diese Kinder zu Hause ein Schweigegebot auferlegt bekommen. Sucht ist hochgradig tabuisiert in unserer Gesellschaft. Die Kinder erleben zuhause oft sehr schlimme Dinge, reden aber nicht darüber. Wir wollen diesen Kindern eine Stimme geben und rücken sie für eine Woche in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Damit sensibilisieren wir dafür, dass oft in nächster Nähe Kinder wohnen, die unter der Erkrankung ihrer Eltern leiden – in der Nachbarwohnung, bei Bekannten oder Freunden.

Sind auch politische Forderungen mit der Aktionswoche verknüpft?

Absolut. Wir brauchen in Deutschland ein flächendeckendes Netz der Hilfe. Und dieses Netz muss stabil finanziert werden. Bisher ist das nicht der Fall. Wir wünschen uns, dass in jeder Kommune eine Anlaufstelle für diese Kinder geschaffen wird, die sich nicht Jahr für Jahr neu über Projektanträge wieder finanzieren muss, sondern einfach da sein kann

Warum ist es so wichtig, von der Projektfinanzierung wegzukommen?

Für diese Kinder und Jugendlichen ist schwer, überhaupt einen Ort zu finden, an dem sie Unterstützung finden. Für sie ist es dramatisch, wenn dieser Anlaufpunkt dann nicht sicher ist. Unsicherheit erleben Sie zu Hause tagtäglich. Wir haben noch eine zweite Forderung …

Welche?

Das Thema suchtbelastete Familien muss viel mehr Aufmerksamkeit finden in den Aus- und Fortbildungsplänen von pädagogischem und medizinischem Personal. Wir stellen fest, dass Lehrer*innen, Erzieher*innen und sogar Ärzt*innen oft nicht ausreichend informiert sind über das, was in den belasteten Familien passiert. Sie wissen nicht, wie sie mit den Kindern umgehen sollen und wie man interveniert.

Wer organisiert die Aktionswoche und welche Aktionen sind geplant?

Organisiert wird das von uns, also NACOA Deutschland e.V., der Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien. Jedes Jahr im Herbst veröffentlichen wir einen Aufruf und das Motto für den nächsten Aktionstag. In diesem Jahr lautet es „Wir sind Millionen“. Einrichtungen, die sich beteiligten wollen, können auf unserer Website ihre Aktionen eintragen. In diesem Jahr gibt es 160 Veranstaltungen – ein neuer Rekord, der uns sehr berührt. Suchtberatungsstellen machen mit. Bibliotheken organisieren Lesungen. Es gibt Filmabende und viele Informationsveranstaltungen für Fachkräfte. In Leipzig gibt es auch ein Seminar für betroffene Eltern. Und es gibt viele Veranstaltungen, die einfach den Kindern etwas Spaß bringen sollen, zum Beispiel Eislaufen oder eine Familienrallye. Denn auch das ist wichtig: den Kindern Zeit, Aufmerksamkeit und Freiräume schenken, die unbelastet sind von dem Sucht-Thema.

Was leisten Kommunen heute schon für Kinder aus suchtbelasteten Familien? Gibt es gute Beispiele aus der Praxis?

Ein erfolgreiches Projekt gibt es zum Beispiel in Radolfzell: „Aufwind“, das ist eine Kinder- und Jugendgruppe, die großartige Arbeit macht. Beeindruckt hat mich die Geschichte von einem Mann, den wir gerade für eine Fotoausstellung porträtiert haben: Nicolas Weber. Er hat eine wirklich harte Kindheit hinter sich. Beide Eltern waren suchtkrank, er selbst wurde verhaltensauffällig und ist von der Schule geflogen. Er hatte viel Wut in sich. In der Förderschule hat endlich mal jemand gefragt: Woher kommt die Wut eigentlich? Über verschiedene Wege ist er dann zu der Kinder- und Jugendgruppe gekommen. Heute ist Nicolas ein starker junger Mann, der selbst Sozialarbeit studiert und sich immer noch ehrenamtlich in der Gruppe engagiert. Es wäre toll, wenn es solche Gruppen überall gäbe. Zwar gibt es bundesweit etwa 100 bis 120 ähnliche Angebote, und es werden mehr. Aber bei drei Millionen Kindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien reicht das natürlich noch lange nicht.

Welche Handlungsbedarfe sehen Sie im Bereich der Jugendhilfe? Was muss sich ändern?

Die Arbeitsgruppe „Kinder psychisch und suchtkranker Eltern“ (KipkE) hat im Auftrag des Bundestages Empfehlungen erarbeitet und diese 2020 vorgelegt. Eine Kernthese war: Das Thema muss in der Kinder- und Jugendhilfe viel präsenter sein. Wir brauchen ein flächendeckendes Hilfesystem. Wir brauchen eine Online-Beratung, die unser Verein gerade aufbaut. Und ganz wichtig: Wir brauchen ein Lotsensystem vor Ort.

Wie soll das aussehen?

Im Idealfall sollte die Familie eines suchtkranken Menschen, der sich in eine Behandlung begibt, sehr schnell Hilfe bekommen von einem Fallmanager aus der Kommune. Und dieser sollte als Lotse gerade auch die Kinder in den Blick nehmen – und wissen, wo man Beratung und Betreuung herbekommt. Es gibt zwar die Kinder- und Jugendhilfe und das Gesundheitssystem vor Ort, aber oft sind schon diese beiden Säulen nicht gut miteinander vernetzt. Betroffene Familien wissen oft gar nicht, welche Hilfsangebote es gibt. Ein Lotse könnte sagen: Hier könnt ihr eine Haushaltshilfe bekommen, die euch entlastet. Und dort ist ein Beratungszentrum, da könnt ihr eine Familientherapie machen. Das würde unglaublich weiterhelfen, weil die Sucht eben nicht nur den Einzelnen betrifft, sondern auch die Angehörigen und Kinder der Suchtkranken.

 

Weiterführende Informationen:
coa-aktionswoche.de

Autor*in
Porträtfoto Mann mit Brille und dunkelblonden Haaren
Carl-Friedrich Höck

ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare