Wie Kommunale Entwicklungsbeiräte die Demokratie beleben können
Pressefoto
DEMO: Sie wollen die Demokratie stärken und schlagen als Lösung „Kommunale Entwicklungsbeiräte“ vor. Was verstehen Sie darunter?
Gesine Schwan: Kommunale Entwicklungsbeiräte sind eine Partizipationsform auf kommunaler Ebene. Sie beschäftigen sich damit, wie die langfristige Entwicklung der Kommune gestaltet werden soll. Das Gremium setzt sich zusammen aus drei Gruppen: den Vertretern der gewählten Politik – Bürgermeister, Verwaltung und Stadtverordnetenversammlungen –, aus der Gruppe der organisierten Zivilgesellschaft – das sind Verbände, Bürgerinitiativen und so weiter – und aus der Wirtschaft, also Unternehmen, Industrie- und Handelskammer, Gewerkschaften etc.
Sie stellen fest, die Demokratie sei in einer Krise. Warum?
Laura Gerards Iglesias: Das Vertrauen in demokratische Institutionen ist geschwunden. Das zeigen verschiedene Umfragen der vergangenen Jahre. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Distanz zu den Politikerinnen und Politikern gewachsen sei. Sie fühlen sich nicht mehr repräsentiert. Antidemokratische Gruppierungen versuchen das auszunutzen. Sie begegnen den Ängsten und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger mit vermeintlich einfachen Lösungen. Zum Vertrauensverlust trägt außerdem das Zusammenspiel von Demokratie und Globalisierung, also der globalisierten Wirtschaft bei.
Gesine Schwan: Seit es die Demokratie gibt, hat es immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem demokratischen politischen System und der Wirtschaft gegeben. Das heißt: Hier die Freiheit der Menschen, dort die Wirtschaftsfreiheit, die tendenziell oft die Freiheit der einzelnen Menschen unterwirft und Ungleichheiten befördert. Dies in eine Balance zu bringen, ist eine dauernde Aufgabe. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das mit sozial- und wohlfahrtstaatlichen Regelungen über längere Zeit gut gelungen. Doch mit dem Ende der 1970er Jahre sind wir wieder in ein Ungleichgewicht gekommen. Infolge der ökonomischen Globalisierung konnten sich Unternehmen den nationalen Gesetzgebungen entziehen. Damit haben die Nationalstaaten die Instrumente verloren, um die Balance herzustellen.
Gerade in der globalisierten Welt werden wichtige politische Entscheidungen oft in Berlin oder Brüssel getroffen. Sie nehmen aber eine ganz andere Ebene in den Blick: die Kommunalpolitik. Warum glauben Sie, dass die Lösung gegen Demokratieverdrossenheit hier liegt?
Laura Gerards Iglesias: Auf kommunaler Ebene werden die Auswirkungen von globalen Entscheidungen und Entwicklungen spürbar und erfahrbar. Gleichzeitig kann hier jeder und jede Einzelne Selbstwirksamkeit erfahren. Das heißt: Auch wenn ich kein gewählter Politiker bin, kann ich mich mit Gleichgesinnten zusammentun und vor Ort etwas verändern
Gesine Schwan: Man muss sich klarmachen, dass auf der kommunalen Ebene etwa 65 Prozent der öffentlichen Investitionen stattfinden. Das sind zum Beispiel Investitionen für die Transformation im Energie- und Klimasektor. Man hat also auf kommunaler Ebene durchaus finanzielle Macht und Einfluss. Wer sich auf kommunaler Ebene am politischen Betrieb beteiligt, ihn versteht und sich selbstwirksam fühlen kann, dem erscheint auch die gesamte Demokratie in einem anderen Licht. Man durchschaut sie besser und entwickelt ein positiveres Verhältnis zu unserem System.
Auf kommunaler Ebene gibt es bereits viele Gremien, in denen Bürgerinnen und Bürger sich einbringen können: öffentliche Ausschüsse, Kommissionen oder Jugendparlamente zum Beispiel. Warum braucht es da jetzt auch noch Entwicklungsbeiräte?
Gesine Schwan: Weil diese verschiedenen Beratungsgremien zwei Dinge nicht haben. Erstens: Sie können Informationen sammeln und sie können beraten, sie können aber nicht einwirken auf die Gestaltung. Zweitens: die Gremien befassen sich immer mit Spezialfragen, also Kindergärten, Straßen, Mobilität und so weiter. Die eigentliche politische Aufgabe besteht aber darin, die verschiedenen fachlichen Aspekte zusammen zu betrachten und ressortübergreifend Prioritäten zu setzen. Das findet nicht in den Fachgremien statt, sondern beim Bürgermeister oder im Stadtrat.
Ein dritter Aspekt: Die Entscheidung, was umgesetzt wird, liegt bei der gewählten Stadtverordnetenversammlung. Die Gefahr besteht also, dass die Bürgerinnen und Bürger nichts bewirken, wenn ihre Empfehlungen nur in der Schublade landen. In Kommunalen Entwicklungsbeiräten sitzen die Gewählten mit den Nichtgewählten zusammen. Ziel ist es, dass sie ihre Vorstellungen austauschen, alle Argumente prüfen, kreative Lösungen suchen – und sich am Ende alle mit dem identifizieren, was man gemeinsam besprochen hat. Deshalb hoffen wir auf verbindliche Ergebnisse, ohne damit die Legitimation der gewählten Gremien infrage zu stellen.
Laura Gerards Iglesias: Es geht darum, einen gemeinsamen Grundkonsens auszuhandeln, sich gegenseitig zuzuhören und zu einer guten Entscheidung für das Gemeinwohl zu kommen. Dazu ist es wichtig, dass die verschiedenen Interessensvertreter sich auf einer anderen Ebene begegnen als sonst. Entscheidungen sollen nicht einfach mehrheitlich durchgestimmt werden. Die Arbeitsweise eines Kommunalen Entwicklungsbeirates ist also eine andere.
Welche konkreten Themen sollen die Beiräte bearbeiten?
Gesine Schwan: Das entscheiden die Gemeinden und Städte selbst. Zum Beispiel kann es um die Entwicklung von bestimmten Brachflächen gehen, ein neues Mobilitätssystem oder die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. In einer Gemeinde ging es darum, wie die Kommunikation unter den Bürgerinnen und Bürgern besser gestaltet werden kann. Das klingt abstrakt, aber die Menschen haben unter Polarisierung und gegenseitigen Ressentiments gelitten. Sie haben sich gefragt: „Wie können wir als Gemeinde besser zusammenkommen, uns besser verstehen und andere Perspektiven begreifen?“ Auch das kann ein Thema für einen Kommunalen Entwicklungsbeirat sein.
Wie arbeitet ein Entwicklungsbeirat und welche Abläufe sind vorgesehen?
Laura Gerards Iglesias: Kommunale Entwicklungsbeiräte arbeiten in Projektzyklen. Ein Beirat soll eine Antwort auf eine ganz konkrete Fragestellung entwickeln und Empfehlungen erarbeiten, die etwa 10 bis 20 Seiten umfassen. Dafür ist ungefähr ein Jahr Zeit. In diesem Zeitraum finden vier ganztätige Sitzungen statt, oder auch mehr. In Frankfurt wurde zum Beispiel ein doppelsprachiger Beirat eingerichtet, da dauert es auch mal länger.
Dem Beirat gehören etwa 30 bis 40 Personen an. Wer ihm angehört und welche Frage beantwortet werden soll, kann vorher eine multi-perspektivische Steuerungsgruppe festlegen, bestehend aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung.
Gesine Schwan: Es ist unsere Absicht, dass Kommunale Entwicklungsbeiräte zur Zusammenführung der gesamten Stadtgesellschaft beitragen. Die Diskussionen sollen nicht nur im Gremium stattfinden, sondern auch nach außen getragen werden, sodass sich der Stil und die Kultur dieses demokratischen Prozesses – zuhören, Beweggründe abwägen, aushandeln – auf die Gesellschaft weiter erstreckt. Nur, wenn eine Gesellschaft in einer Kommune auch in ihren Grundwerten und Grundvorstellungen einigermaßen beieinander ist, kann sie gut und fruchtbar arbeiten und sich weiterentwickeln.
Welche praktischen Erfahrungen konnten Sie mit dem Konzept bisher sammeln?
Gesine Schwan: Wir haben als Berlin Governance Platform insgesamt sechs kommunale Entwicklungsbeiräte aufgebaut: vier mit der Bundeszentrale für politische Bildung, eins war ein Pilotprojekt in Herne und eins mit dem Bundesumweltministerium in der Lausitz. Erstaunlicherweise haben wir genau die Resultate bekommen, auf die wir gehofft haben. Der andere Stil des Umgangs und die Ruhe, Konflikte durchzugehen, haben zu einer großen Verständigungsbereitschaft und Vertrauensbildung beigetragen. Und zwar nicht nur unter den Mitgliedern des Kommunalentwicklungsbeirats, sondern auch mit der Verwaltung.
Laura Gerards Iglesias: In vier weiteren Kommunen sind in diesem Jahrmit finanzieller Unterstützung der E.ON-Stiftung vier Kommunale Entwicklungsbeiräte gestartet.
Die Mitgliederzahl eines Beirates ist begrenzt und er tagt nichtöffentlich. Worauf kommt es an, damit die Arbeit des Beirates auch von der breiten Bevölkerung akzeptiert wird?
Gesine Schwan: Der Beirat tagt vertraulich, weil das die Bedingung dafür ist, wirklich über die Sache zu sprechen und keine Fensterreden zu halten. Die Regel ist: Man kann und soll öffentlich darüber sprechen, welche Argumente und Inhalte besprochen wurden, aber nicht, wer was gesagt hat. Das ist ganz wichtig, damit alle frei sind ihre Gedanken auszusprechen und Kompromisse zu finden. Es gehört zum Konzept, dass von vornherein parallel Öffentlichkeitsarbeit gemacht wird: digital, aber auch mit analogen Dialogformaten, wo man mit verschiedenen Punkten nach außen geht. Außerdem sollen die Mitglieder der Entwicklungsbeiräte immer wieder zurück in die Gruppen gehen, die sie in den Beirat entsendet haben, also in Seniorenvereine, Turnvereine, Kulturvereine oder Bürgerinitiativen. Dort sollen sie die Zwischenergebnisse besprechen und neue Anregungen einsammeln. Das führt zu viel Kommunikation und Stadtgespräch.
Laura Gerards Iglesias: In fast allen Prozessen entscheidet sich die Planungs- oder Steuerungsgruppe, einige Losplätze zu vergeben. Das ist eine Möglichkeit für Personen, die nicht in Vertretungen oder Vereinen organisiert sind, sich auf einen Platz im Beirat zu bewerben. In Cottbus wurden so acht Plätze vergeben. Auch das führt zu einer Öffnung, um noch mehr Perspektiven aus der Bürgerschaft einzubeziehen.
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.