Warum der Marburger OB die Forderungen der „Letzten Generation“ unterstützt
Herr Oberbürgermeister, stellen Sie sich vor, Sie sind 20 Jahre alt. Mit welchen Mitteln des Protests würden Sie auf die Klimakrise aufmerksam machen?
Mit 20 war ich schon drei Jahre in der SPD und wusste mich meiner Stimme zu bedienen und Mehrheiten zu finden. Dabei kann man ja auch laut, in der Sache hart, kontrovers und sachlich diskutieren. Ich wusste auch, dass ich dort gehört werde. Ich würde also innerhalb und außerhalb vernehmlich meine Stimme erheben und mit denen, die wir in Gremien schicken, sprechen.
Laut werden reicht heute nicht mehr?
Mir macht Sorgen, dass junge Menschen heute das Gefühl haben, dass sie öffentlichkeitswirksame und teilweise auch rechtswidrige Mittel des Protests wählen müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Denn den Brief hätte ich auch geschrieben, ohne dass sich jemand auf die Straße klebt. Heute, als Oberbürgermeister, bin ich froh, erfolgreich den Rechtsstaat durchgesetzt zu haben: Wer sich an die Straße klebt, wird abgelöst, das Weitere macht die Justiz. Und ohne inhaltliche Zugeständnisse habe ich meine Stadt erfolgreich vor weiteren Rechtsverstößen geschützt. Das finde ich gut.
Sie sagen, Sie haben Verständnis für die Motive der jungen Menschen, aber kein Verständnis für die Kleben-Taten. Welche Forderungen der „Letzten Generation” sind auch Ihre Forderungen?
Tempolimit: Damit sind wir in Deutschland im internationalen Vergleich Exot. In Marburg fordern wir seit Langem ein Tempolimit für unsere Stadtautobahn – alleine schon aus Lärmschutzgründen. Wir wollen gerne selbst entscheiden können, wo wir Tempo 30 anordnen. Ein überregionales attraktives ÖPNV-Angebot ist für die Mobilitätswende und den Kampf gegen den Klimawandel sehr wichtig. Wir können das als Kommune aber nicht allein steuern. Gute Lösungen für den ÖPNV müssen auf Bundes- und Landesebene gefunden werden. Das bundesweite 9 Euro-Ticket wäre eine Möglichkeit – und könnte zugleich einen wichtigen Beitrag zu sozialgerechter Mobilität leisten. Wie gut das 9 Euro-Ticket ankam, haben wir alle 2022 gesehen.
Was müsste passieren, damit die Forderungen zur Realität werden?
Der Bundestag müsste sich beraten, sich ernsthaft mit den Forderungen befassen und sie beschließen. Das Thema Bürger*innenrat wird ja schon länger in Berlin diskutiert und ist Teil des Koalitionsvertrags. Auch der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat sich damit schon befasst.
Was erhoffen Sie sich von dem Schreiben an den Bundeskanzler?
Der Bundeskanzler hat sicher nicht auf meinen Brief gewartet. Das erwarte ich auch gar nicht. Die Bevölkerung von Marburg macht 0,1 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus. Aber wir wissen: die Regierung in Berlin nimmt Hinweise aus der Kommunalpolitik ernst. Und die Forderungen verdienen eine ernsthafte Beratung. Über eine gelegentliche Antwort würde ich mich natürlich freuen, sie würde auch die Debatte in Marburg bereichern.
Welchen Einfluss sollen die Bürger*innenräte haben? Sollen deren Beschlüsse Kommunalpolitik bestimmen können?
Bürger*innenräte beraten zu den Fragen, die ihnen vorgelegt werden. Dann entscheiden Parlamente, das ist doch klar. Aber es gibt Fragen, die eine hohe Komplexität und gesellschaftliche Bedeutung haben. Da kann es hilfreich sein, „ganz normale Menschen“ aus allen Teilen der Gesellschaft zu Rate zu ziehen, zum Beispiel den Fahrradaktivisten und die alleinerziehende Mutter, die nur mit dem Auto Kinder und Beruf unter einen Hut bringt, an einem Tisch miteinander an Lösungen arbeiten lassen. So handhaben wir das auch in Marburg. Und wir haben damit gute Erfahrungen gemacht: Bürger*innenräte können dabei helfen, mutige, kreative Maßnahmen zu entwickeln und einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu finden. Wenn wir Menschen zufällig und repräsentativ auswählen und sie in ein solches Beratungsgremium einladen, dann arbeiten sie mit großer Ernsthaftigkeit an den Problemstellungen. Über die Vorschläge aus diesen beratenden Gremien entscheidet dann unsere Stadtverordnetenversammlung.
Die sogenannte bürgerliche Mitte bildet in Ihrem Stadtparlament die größte Fraktion. Doch SPD, Grüne und Linke haben zusammen eine Zweidrittelmehrheit. Fällt es da nicht leicht, fortschrittliche Beschlüsse gegen den Klimawandel zu fassen?
Klar, machen wir auch. Aber als einzelne Kommune können wir nur einen begrenzten Teil zur Klimaneutralität durch Beschlüsse regeln oder durch eigene Maßnahmen lösen. Einiges klappt gemeinsam mit einer engagierten Stadtgesellschaft. Und für Vieles sind Regelungen in EU, Bund und Ländern nötig – auch für mehr Spielraum der Kommunen. Auch in Marburg müssen wir uns also bemühen, mit unseren Maßnahmen, beispielsweise der warmmietenneutralen Sanierung von großen Mietshäusern oder auch Förderprogrammen für Solarstrom, die Breite der Gesellschaft mitzunehmen. Ich freue mich, dass es seit vielen Jahren breiter kommunalpolitischer Konsens ist, dass Marburg hier eine Vorreiterrolle einnehmen will.
SPD-geführte Städte fallen durch ihre positive Integrationspolitik auf. Müsste die Partei nicht ihr Profil als „besonders klimafreundlich” nachschärfen?
Die SPD ist die Partei des gesellschaftlichen Fortschritts, das ist heute die sozial-ökologische Innovation. Sie ist dann stark, wenn sie Antworten auf die großen Fragen findet und dabei Menschen mit kleinem Einkommen im Blick behält. Die Klimakrise ist eine der großen Menschheitsherausforderungen, und die SPD ist die einzige Partei, die Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit überzeugend zusammenbringen kann. Ich finde vieles, was die SPD und Bundeskanzler Olaf Scholz in Sachen Klimaschutz in diesen irren schwierigen Zeiten machen, klug und richtig. Ein bisschen mehr Sichtbarkeit könnte nicht schaden.
ist freier Journalist. Er ist Mitglied im Verein Deutsches Institut für Normung und dort im Redaktionskreis für eine DIN Einfache Sprache. Webseite: leichtgesagt.eu