Ulrich Heinemann analysiert das deutsche Schulsystem
Ulrich Heinemann ist eigentlich ein ausgesprochener Verfechter der Schulreform. 13 Jahre war er Abteilungsleiter im NRW-Ministerium für Schule und Weiterbildung. Anderthalb Jahrzehnte hat er auf das Ganze geblickt, alle Gruppen und alle Akteure dieses Schulsystems beleuchtet. Der Historiker bilanziert: „Es sind nach der Schulreform sehr viele Mittel geflossen, es wurde eher zu viel als zu wenig modernisiert und die Schulen sind durchaus selbstständiger geworden. Lehrpläne wurden verändert und auf Kompetenzen umgestellt, individuelle Förderung steht inzwischen in fast allen Schulgesetzen.“
Lernschule im Leerlauf
Trotzdem beobachtet der Sozialdemokrat „rasanten Leerlauf“ und kommt zu der Erkenntnis: Die althergebrachte Lernschule mit dem ritualisierten, lehrerzentrierten Halbtags-Unterricht im 45-Minuten-Takt, nach dem schon unsere Ur-Großeltern unterrichtet wurden, bleibt in leicht modernisierter Form weiter bestehen. Selbst lange Ferienzeiten im Sommer orientieren sich noch an dem vorindustriellen Erntezyklus, die Weinleseferien in Rheinlandpfalz sind ein Anachronismus, da die Weinlese längst nicht mehr von Kindern gemacht wird.
Seine brillante und gut geschriebene Analyse ist kein Erfahrungsbuch, darauf legt der Historiker wert. Der Autor geht vielmehr der Frage nach: Wer oder was könnte die deutsche Schule leistungsstärker, zukunftsfester und zugleich chancengleicher machen? Ihm ist eine ungewöhnliche 360-Grad Betrachtung gelungen, die versucht alle Ebenen, alle Akteure und Stakeholder sowie möglichst viele Aspekte des Schulwesens einzubeziehen.
Schuler haben nur abrufbares Wissen
Heinemann hat drei Hauptsorgen: Erstens: Schüler verfügen nur über abrufbares Wissen, brennen nicht für ein Fach. Das merkt der Lehrbeauftragte auch bei seinen Studenten. „Wissen als Rohstoff des 21. Jahrhunderts zu verstehen, da sind deutsche Schulen unterdurchschnittlich gut.“ Zweitens sind Schulen keine guten Migrationsagenturen. Für Heinemann dominiert eine ethisch und sozial weitgehend homogene weiße christliche Mittelschicht die Schuldebatte. Das sei „vermintes Gebiet“, die meisten Beteiligten möchten, dass alles so bleibt, wie es ist. Und zum Dritten haben es Unterschichtenkinder schwerer, meint Heinemann. Viele verlassen die Schule, ohne nachhaltig schreiben oder lesen zu können. Heinemann, seit 21 Jahren in Bochum SPD-Mitglied, verdankt als Arbeiterkind der Partei viel, wie er sagt, nicht zuletzt, weil er über die Friedrich Ebert Stiftung ein Stipendium bekam.
Problematisch sind für ihn auch die Mono-Professionalität und die Allzuständigkeit. Lehrkräfte sind vom Unterrichtsstoff über individuelle Förderung bis Pausenaufsicht für alles alleine zuständig. Hilfreiche Team-Orientierung oder die Akzeptanz von Assistenzlehrern sind eher schwach ausgebildet, obwohl es entlastende Arbeitsteilung wäre. Heinemann wünscht sich eine andere Arbeitskultur an den Schulen, um die Kinder fit zu machen für das 21. Jahrhundert: Dazu gehören multiprofessionelle Teams, den Lehrerberuf wie in den Niederlanden spezialisieren, Räume und Ressourcen für Digitalisierung schaffen. Das schlechte Abschneiden bei den neuesten PISA-Studien zeigt Heinemann, dass sich Deutschland den zentralen Problemen im Bildungsbereich nicht stellt, sondern sie tabuisiert.
Ulrich Heinemann „Bewegter Stillstand. Die paradoxe Geschichte der Schule nach PISA.“ Beltz Juventa Verlag, Weinheim Basel 2017, ISBN:978-3-7799-3496-7, 68 Euro, zu bestellen u.a. in der vorwärts Buchhandlung.
ist Journalistin, Audio-Biographin und Coach. Lebt in Troisdorf bei Köln, arbeitet seit 1996 frei für den Öffentlich-Rechtlichen Hörfunk (WDR5) und schreibt regelmäßig für die DEMO. Homepage: www.rhein-reden.de