Altenpflege im Wandel
Die Vision: Seit zwei Legislaturperioden heißt das Gesundheitsministerium in Deutschland Ministerium für Pflege und Gesundheit. Eine seiner ersten Maßnahmen war es, mit guter Bezahlung und Boni eine Offensive zur Gewinnung von Arbeitskräften für die Pflege zu starten. Das zeigte Wirkung. Immer mehr junge Menschen entschlossen sich, in der Altenpflege zu arbeiten. Nach und nach gelang es, wieder alle Stellen zu besetzen, neue zu schaffen und Pflege wohnortnah anzubieten. „Ins Heim zu müssen“ verlor seinen Schrecken. Die Beitrags- und Steuerzahler kostet es Milliarden, politisch war es ein harter Kampf. Inzwischen ist die Zustimmung hoch.
Stellen bleiben unbesetzt
Die Realität sieht anders aus. Nach Berechnungen des Bremer Pflegewissenschaftlers Professor Heinz Rothgang fehlen derzeit mehr als 100.000 Fachkräfte. 2035, wenn die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden, werden 500.000 Pflegekräfte fehlen, darunter viele Hilfskräfte, so Dr. Lars Wohlfahrt, Geschäftsführer der AWO Hamburg Seniorenwohnen & Pflege gGmbH. Hilfskräfte, angelernt oder mit einjähriger Ausbildung, übernehmen zum Beispiel die Körperpflege und entlasten so die Fachkräfte mit dreijähriger Ausbildung, die unter anderem die medizinische Behandlungspflege erbringen. Schon jetzt könnten mindestens zwei Drittel der Einrichtungen nicht alle Stellen besetzen, müssten Betten leer stehen lassen und könnten ambulante Kunden nicht annehmen, so Wohlfahrt. Zwar sei die Flaute bei der Zahl der Auszubildenden vorüber. Auch deren Bezahlung sei mit gut 1.100 Euro im ersten bis gut 1.300 Euro im dritten Ausbildungsjahr vergleichsweise gut. Dennoch könne auch er nicht alle Ausbildungsplätze an allen Standorten besetzen.
Wertschätzung fehlt
Aus Sicht der Beschäftigten fehlen vor allem Wertschätzung und Arbeitszufriedenheit. „Das hat zum großen Teil mit Bezahlung zu tun“, so Sabine Kalkhoff, Leiterin des Alten- und Pflegeheims Haus St. Johannis in Hamburg. Klatschen und ein einmaliger Pflegebonus, wie 2021 und 2022, reichten nicht, um dauerhaft die notwendige Wertschätzung zu kommunizieren und damit die Attraktivität des Berufes zu gewährleisten. Pflege sei, nicht nur wegen Corona, komplexer geworden. „Die Menschen bleiben so lange wie möglich zu Hause. Wenn sie in unsere Einrichtungen kommen, sind sie oft schwer krank oder stark dement. Für diese Menschen brauchen wir Zeit. Das ist es, was unserer Arbeit einen Sinn gibt, aber wir merken, dass uns diese Zeit fehlt.“ Weil sie nicht genügend Fachkräfte finde, müsse sie zuweilen Betten leer stehen lassen. „Ich kann die zusätzliche Arbeit den Beschäftigten nicht zumuten.“
Seit 2020 gibt es eine integrierte Gesundheits- und Krankenpflege- sowie Altenpflegeausbildung. Das könnte die Situation in der Altenpflege weiter verschlechtern, sorgen sich auch Befürworter der integrierten Ausbildung, denn in der Altenpflege wird weniger bezahlt als in der Krankenpflege. Junge Leute, die nach der Ausbildung in der Altenpflege geblieben wären, könnten wegen der besseren Bezahlung erst mal in die Krankenhäuser gehen, fürchtet Carsten Mai, Leiter der Evangelischen Berufsschule für Pflege in Hamburg. Genau werde man das im kommenden Jahr wissen, wenn die ersten Absolventinnen und Absolventen ihre Ausbildung beendet haben. Auch um diese Ungleichbehandlung zu beheben, hat sich die Ampel-Regierung im Bund im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, die Gehaltslücke zwischen Kranken- und Altenpflege zu schließen.
Selbstbestimmt leben
Auf die Frage, wie er sich sein Leben im Alter vorstellt, antwortet Mai. „Ich hoffe, dass es ein bis zwei Menschen gibt, die für mich eine Lösung finden.“ Sabine Kalkhoff wünscht sich „Menschen, die mich wertschätzen, die verstehen, wer ich bin und dafür die Zeit aufbringen können“. Und Dr. Wohlfahrt sagt: „So selbstbestimmt wie möglich zu leben.“ Es ist das, was sich alle für sich und die Angehörigen erhoffen. Um das zu erreichen, braucht es einen großen Wurf, und das koste richtig viel Geld, glaubt Schulleiter Mai. Bislang habe keine Regierung den Mut gehabt, das öffentlich zu vertreten: „Das finde ich sehr schade.“ Eine kleine Hoffnung hat er: „Pflege ist öffentlicher geworden.“ Er habe inzwischen auch Bewerbungen aus anderen Berufen, zum Beispiel aus dem kaufmännischen Bereich. Um den Fachkräftemangel auszugleichen, werde das nicht reichen. Sabine Kalkhoff stimmt ihm zu: „Die Politik muss begreifen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Gold der Einrichtungen sind.“