Demokratie in der Kita

Im Dolli-Einstein-Haus von der AWO in Pinneberg können Kinder bei allen sie betreffenden Belangen mitentscheiden. Das Konzept macht in ganz Schleswig-Holstein Schule.
von Susanne Dohrn · 6. April 2018
placeholder

Die Uhr zeigt 10.15: In der Kita Dolli-Einstein-Haus tagt der Kinderrat. Es geht darum, ob der Ausflug der Kita in einen Tierpark oder auf einen Erlebnishof mit Alpakas führen soll. Nun sollen die „Weitersager“, die Delegierten der Kita-Gruppen, das Votum der Gruppen zusammentragen.

Kita-Verfassung definiert Grundrechte

Alltag in der ersten Demokratie-Kita Deutschlands. Auf einem roten Plakat im Büro von Leiterin Ute Rodenwald sind die Kinderrechte mit Bild und Text festgehalten: „Ich entscheide, was und wie viel ich esse.“ „Ich habe das Recht zu schlafen.“ „Ich entscheide, mit wem ich kuscheln möchte.“ „Ich darf meine Meinung jederzeit sagen.“ Oder auch das: „Ich entscheide, wer mich wickelt.“

Ute Rodenwald: „Mitbestimmen beginnt schon in der Krippe – immer in einem Rahmen, den die Kinder überblicken, den sie verstehen.“ Heike Schlüter, ­Rodenwalds Stellvertreterin, ergänzt: „Wir versuchen, die Kinder darin zu bestärken, dass sie sich für die Sachen einsetzen, die ihnen wichtig sind.“

Zur Demokratie gehören Regeln

10.20 Uhr: Zur Demokratie gehören Regeln. Pädagogin Norina Maaß legt zu Beginn der Kinderratssitzung das Bild von einem Ohr auf den Tisch und fragt, was das bedeutet. „Ich höre zu“, antwortet Jona. Es folgt eine Glühbirne. „Ich habe eine Idee,“ antwortet Pia. Ein Kopf steht für „Ich bin da“, der Mund mit einer großen Sprechblase für „Ich sage, was ich denke“.

Solche Regeln stellen die Kinder mit auf. In der Präambel der fünfseitigen Kita-Verfassung ist festgelegt, dass die Beteiligung der Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen ein „Grundrecht“ ist.

10.25 Uhr: Pia, Carla, Jona und Berkan, die Weitersager, haben Protokolle mitgebracht. In ihren Gruppen – sie heißen Delfine, Frösche, Robben und Raben – wurde zuvor über den Ausflug diskutiert und abgestimmt. Auf den Protokollen ist das Ergebnis als Piktogramm festgehalten: Lächeln steht für Ja zum Ausflug zu den Alpakas, neutral für unentschieden, heruntergezogene Mundwinkel für Nein. Unter den Piktogrammen befinden sich Strichlisten. Schreiben können die Kinder noch nicht, zählen schon. Nun malen die Weitersager das Votum ihrer Gruppen auf die Tafel. Norina Maaß und Monika Rinne, die beiden Pädagoginnen, assistieren.

Kinder wählen die Weitersager selbst

Weitersager werden, wie der Elternbeirat, zu Beginn des Kitajahres gewählt: ein Mädchen und ein Junge im letzten Kita-Jahr aus jeder der vier altersgemischten Gruppen. So steht es in der Verfassung. In der Gruppe hat jedes Kind eine Stimme, auch 3-Jährige. Die Wahl ist geheim, auf dem Wahlzettel stehen Bilder statt Namen. Heike Schlüter: „Wir haben anfangs gedacht, die Kinder entscheiden nach Sympathie, aber die ist ihnen gar nicht so wichtig. Ihnen ist klar, dass es um Kompetenz geht.“

10.45 Uhr: Auf der Tafel ist ein Bild-Protokoll entstanden: die Namen der Anwesenden, ein Quadrat mit Kopf, ­Augen und Ohren steht für den Erlebnishof, ein aufgemalter Delfin, eine Robbe, ein Frosch und ein Rabe für die Kita-Gruppen, darunter das Votum. Ein langer Bus, aus dessen Fenstern viele Kinder schauen, dokumentiert das Ergebnis: Eine klare Mehrheit hat für den Erlebnishof gestimmt.

Viele Kitas übernehmen die Idee

Bis zur ersten zertifizierten Demokratie-Kita Schleswig-Holsteins war es ein mehr als zehnjähriger Weg, unterstützt von regelmäßigen Weiterbildungen des Kieler Instituts für Partizipation und Bildung. Der eigenständige Verein ist Erfinder des Konzepts „Kinderstube der Demokratie“ und zertifiziert die Kitas. Inzwischen ist aus der Idee eine Bewegung geworden. Bis zum Jahr 2020 sollen alle AWO-Kitas in Schleswig-Holstein als Demokratie-Kitas anerkannt sein.

„Wo, wenn nicht in den Kindertagesbetreuungs-Einrichtungen, sollen wir damit anfangen, diese Werte zu vertreten und zu leben, die aus unserer Sicht notwendige Bedingungen einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft sind“, sagt der schleswig-holsteinische AWO-Geschäftsführer Michael Selck. Das AWO Projekt ist mittlerweile international bekannt. 2017 wurde es von der finnischen Organisation HundrED für ihr Demokratieprojekt unter mehr als tausend weltweiten Bildungsprojekten ausgezeichnet.

10.50 Uhr: Norina und Monika beschriften das Protokoll für die Pädagoginnen in den Gruppen, die die Zeichnung des Delfins oder Raben nicht als solchen erkennen. Dann fotografiert Norina das Protokoll, um es an die Kita-Leitung weiterzugeben, wo es abgeheftet wird. Die muss nun einen Termin abmachen und den Bus organisieren. Denn damit wären die Kinder in der Tat überfordert.

Autor*in
Susanne Dohrn

ist freie Autorin und SPD-Ratsfrau in Tornesch

0 Kommentare
Noch keine Kommentare