Den Einfluss der Kommunen stärken

Landkreise und kreisfreie Städte müssen wieder für den „Kernbereich der Pflege“ zuständig sein, fordert Jürgen Freese von Deutschen Landkreistag. Ein großes Problem ist auch die ärztliche Versorgung älterer Menschen in ländlichen Regionen.
von Karin Billanitsch · 11. Oktober 2018
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Bis zum Jahr 2035 wird es nach einer aktuellen Prognose vier Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland geben. Die Älteren müssen versorgt werden, dabei wollen viele so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben. Wie kann die Kommune dabei mitwirken?

Mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurden die Kommunen finanziell stark entlastet. Doch es gab und gibt eine Kehrseite dieser Reform: Pflege, Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung sind seither weitgehend voneinander getrennt. Der Gesetzgeber hat auch die Verantwortung der Kommunen für die Pflege deutlich beschränkt. Wir haben kaum Einfluss auf Pflegeinfrastrukturen. Zuständig sind die Pflegekassen, die häufig sogar bundesweit tätig sind. Die Zeiten, in denen wir kreisbezogene Kassen hatten, sind lange vorbei. Der Ortsbezug und die Einbeziehung in die örtlichen Strukturen sind weg.

Wir sind jetzt dabei, das Rad mühsam wieder zurückzudrehen – und das halte ich für dringend notwendig. Bei den Pflegestärkungsgesetzen I-III, haben Länder und Kommunen massiv versucht, den kommunalen Einfluss zu stärken. Aber das ist kaum gelungen, weil wir nicht genügend Unterstützer Fraktionen hatten. Hier müssen wir erneut ansetzen. Denn das Prinzip der sozialen Pflegeversicherung will im Grundsatz keiner anfassen. Ich persönlich bin dabei überzeugt: Wir müssen über die Übertragung des Sicherstellungsauftrages auf die Landkreise und kreisfreien Städte reden.

Können Sie das genauer ausführen?

Im Gesundheitswesen haben wir im stationären Bereich den Sicherstellungsauftrag bei den Ländern, gemeinsam mir Landkreisen und kreisfreien Städten, in der ambulanten Versorgung bei den Kassenärztlichen Vereinigungen. Warum ist er bei der Pflege bei den Pflegekassen? Warum nicht bei den Kommunen oder den Ländern, also bei unmittelbar demokratisch legitimierten Vertretern öffentlichen Interesses? Erst dann sind wir bei den ganz konkreten Fragen: Wie können Menschen länger in den eigenen vier Wänden bleiben? Wir haben ohnehin in der Gemeinde die Zuständigkeit für Wohnungsfragen. Man könnte über die gemeindlichen Wohnungsbaugesellschaften mehr altersgerechte Wohnungen bauen, unter Umständen mit dem Kreis zusammen.

Nutzt es, wenn die Kommunalverwaltung sich mit den Akteuren vor Ort – etwa Pflegedienste, zuständige Pflegekassen, Pflegeheimbetreiber– vernetzt? Sie kann doch mit Blick auf die Versorgung ihrer älteren Bürger nicht völlig außen vor bleiben?

In den Kreisen, kreisfreien Städten, auch in Gemeinden passiert ganz viel. Viele Kommunen machen eine aktive Seniorenpolitik, bieten Wohnberatungsstellen und Musterwohnungen an, haben Pflegestützpunkte und andere vernetzte Beratungsangebote, sichern Wohnraum und Wohnumfeld und die Mobilität, stärken die Familien und die Nachbarn, organisieren Gesundheitskonferenzen etc. Aber im Kernbereich der Pflege hat die Kommune kaum Kompetenzen. Deswegen muss man an die gesetzlichen Zuständigkeitsfragen heran. Doch das darf die Kommune jetzt nicht hindern, das zu tun, was möglich ist.

Ganz allgemein gefragt: Inwiefern ist man in den Kommunen auf die generellen Probleme durch den demografischen Wandel und immer mehr ältere Menschen vorbereitet?

Ich glaube, strukturell sind wir gut aufgestellt. Die Rahmenbedingungen der kommunalen Selbstverwaltung sorgen dafür, dass gerade auch die Interessen älterer Menschen gut vertreten sind in Räten und Kreistagen. Umgekehrt wird eher der Vorwurf laut, es müssten sich mehr jüngere Menschen in der Kommunalpolitik engagieren. Das heißt aber nicht, dass alles in jedem Kreis oder jeder Gemeinde optimal läuft. Da haben wir, glaube ich, immer wieder einen Bedarf an Weiterentwicklung der Strukturen, denn die Erwartungen alter Menschen sind sicherlich andere geworden.

Können Sie das bitte erklären?

Die meisten, die jetzt in Rente gehen und in der Nachkriegszeit gearbeitet und ihre Gemeinde oft auch mit aufgebaut haben, haben zu Recht auch höhere Erwartungen, altersgerechte Strukturen zu finden. Aber diese müssen auch kompatibel mit den Interessen von Familien und jüngeren Menschen sein.

Ist es sinnvoll, die verschiedenen Akteure in der Seniorenpolitik in einer Kommune, zu vernetzen und in einer Leitstelle zu steuern, wo dann die Fäden zusammenlaufen?

Viele haben das für sich mit Ja beantwortet und haben auch gute Erfahrungen damit gemacht. Es gibt aber auch andere Modelle, die eher versuchen, eine Infrastruktur nicht nur für Ältere anzubieten, sondern Angebot und Nachfrage zusammenzubringen: Was können ältere Menschen für die Jüngeren tun und wie könnten Junge den Senioren helfen oder sie treffen? Hier steht nicht so sehr eine Leitstelle für Senioren im Zentrum, sondern eine Art Börse für das Zusammenbringen verschiedener Interessen und Angebote.

Viele Menschen vereinsamen, wenn sie älter werden. Was halten Sie von Konzepten, die das Miteinander der Generationen fördern, zum Beispiel das Leben in einem Mehrgenerationenhaus?

Zum Thema Mehrgenerationenhaus habe ich mehrere Assoziationen. Ich verwende den Begriff eigentlich in dem Zusammenhang, dass verschiedene Generationen viel zusammen machen, aber nicht wohnen. Seit mehr als zehn Jahren gibt es das von Bund geförderte Programm der Mehrgenerationenhäuser, wo vieles vernetzt wird. Von der Kinderbetreuung über Hausaufgabenhilfe bis hin zu Computerkursen für Senioren. Wenn Sie aber auf das Zusammenleben unter einem Dach anspielen …

… genau, wenn etwa eine Baugruppe gemeinsam baut …

…  ist das eine zutiefst individuelle Entscheidung zu sagen „Ja, ich möchte das!“ Mit Menschen zusammenwohnen, die nicht Familie sind, aus einer anderen Generation, etwa Familien mit kleinen oder mittleren Kindern. Ich finde es gut, wenn man in der Gemeinde im Rahmen der Wohnungsbaupolitik Angebote schafft – aber ich glaube, es wird immer nur einen Teil der Bevölkerung erreichen.

Mit Blick auf eine zunehmende Vereinsamung geht es darum, eine räumliche Nähe zu schaffen, ohne dass dies bemüht oder künstlich wirkt. Viele möchten weder Tür an Tür mit einer Großfamilie, noch nur unter Alten leben. Gemischte Quartiere zu schaffen – das wäre schon gut. In ländlichen Regionen haben wir zum Beispiel das Problem, dass ältere Menschen in Wohnungen oder Häusern leben, die nach Auszug der Kinder zu groß geworden sind. Anreize, freiwillig in kleinere Wohnungen umzuziehen, würden Wohnraum für größere Familien freimachen. Das könnte man miteinander verbinden, diese Wohngebiete beleben, etwa durch bessere ÖPNV-Anbindung. Auch Förderprogramme für den Hauskauf können jüngere Menschen zu motivieren, in freiwerdende Häuser zu ziehen.

Bleiben wir beim ländlichen Raum: Wo sehen sie die größten Probleme?

Die größte Baustelle ist die ärztliche Versorgung. Für den ambulanten Bereich ist die Kommune nicht zuständig. Wir brauchen da sehr intelligente Lösungen. Wir sind mit den kassenärztlichen Vereinigungen im Gespräch, ich habe den Eindruck es bewegt sich etwas, aber viel zu langsam. Doch wir sind darauf angewiesen, zusammenzuarbeiten. Dann geht es beispielsweise darum, wie ambulante und stationäre Dienste stärker verzahnt werden können, wie Ältere zu Hause versorgt werden können, oder wie Ältere zur Behandlung transportiert werden können. In Versuchen weniger bewährt haben sich bislang mobile Arztpraxen, nicht zuletzt, weil der Arzt viel Zeit fahrend verbringt.

Viele Rentner und Rentnerinnen sind gesundheitlich fit und voller Tatendrang – befürworten Sie es, sie zum Ehrenamt zu ermutigen?

Da kann die Antwort nur Ja sein. Aber hier muss man früh ansetzen: Jemand geht mit 65 oder 67 in den Ruhestand und sagt: „So, jetzt mache ich mal ein Ehrenamt“ – das funktioniert in der Regel nicht. Nach meiner Erfahrung muss man schon früher anfangen, selbst wenn aufgrund beruflicher Zwänge weniger Zeit vorhanden ist. Unterstützung seitens der Kommune ist sinnvoll – wie die aussehen kann, muss man gemeinsam mit den örtlichen Vereinen erkunden, was die an Unterstützung brauchen.

Auch in einem Mehrgenerationenhaus, wie ich es eben beschrieben habe, können Ältere ihre Kenntnisse einbringen oder umgekehrt sich von jungen Leuten die Welt des Internets beibringen lassen und dadurch gemeinsam in Kontakt kommen. Börsen schaffen, Angebot und Nachfrage zusammenbringen, das klingt technisch – aber letztlich geht es darum.

Gibt es diese Bundesförderung für Mehrgenerationenhäuser noch?

Ja, allen verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten zum Trotz wird weiter gefördert, mit immer neuen Schwerpunkten. Die Träger können sich um die Fördermittel bewerben. Unser Ansinnen dabei ist, dass sich das Vorhaben auf Dauer kommunal etablieren muss. Es muss sich mit dem Gemeinwesen vor Ort verzahnen, kann kein Solitär sein. Es geht nicht darum, mit „Bundesknete“ irgendwas zu machen, und wenn das Geld wegfällt, ist es vorbei. Es kann auch nicht Aufgabe des Bundes sein, in Gemeinden dauerhaft Strukturen aufrecht zu erhalten, die sich nicht im örtlichen Gemeinwesen etablieren.

Weil viele Menschen „Hilfe zur Pflege“ benötigen, werden die Kassen der Kommunen belastet. Was fordern Sie vom Staat, damit die Kommunen dieser Kosten durch demografische Veränderungen nicht allein bzw. mit den Bundesländern, schultern müssen?

Natürlich kann es nicht Verbesserungen bei der Pflegeversicherung geben, die Leistungen der Pflegekassen bleiben aber konstant– und der Rest bleibt bei den Selbstzahlern und vor allem bei den Sozialhilfeträgern hängen. Daher ist ja auch angedacht, die Pflegeversicherungsbeiträge zu erhöhen. Ich glaube, dass die Menschen dafür Verständnis haben. Wir brauchen zudem auch mehr und besser bezahlte Pflegekräfte, dass muss sich auch bei der Refinanzierung durch die Pflegekassen niederschlagen.

Aber wir müssen die Kosten- und Fallzahlensteigerungen, die ja kommen werden, auffangen. Auch ein Steuerzuschuss, wie bei der Krankenversicherung, wäre denkbar. Wir können das jedenfalls nicht über die kommunalen Kassen auffangen. Insoweit lehnen wir auch eine Aufhebung des Unterhaltsrückgriffs in der Hilfe zur Pflege bis zu einem Einkommen von 100.000 € ab. Die Pflegeversicherung ist bewusst nur als Teilleistung der Pflegekassen ausgestaltet, um der familiären Pflegebereitschaft Rechnung zu tragen.

Autor*in
Karin Billanitsch

ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.

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