Deutsch-ukrainische Partnerschaft: Neumünster und Novovolynsk
Wenige Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine war für Tobias Bergmann (SPD) die Sache klar: Auf uns kommt etwas zu. Abwarten gilt nicht. Das liegt an der Situation in Neumünster. Viele Flüchtlinge in Schleswig-Holstein landen zunächst in der dortigen Erstaufnahmeeinrichtung. Am 25. Februar wandte sich der Oberbürgermeister (OB) per Facebook an die Öffentlichkeit: „Wenn ihr flüchten müsst, ihr seid hier in Neumünster willkommen.“
Zehn Monate später, in seiner Neujahrsansprache, dankte er den Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt für ihre „Hilfsbereitschaft und Offenheit“. In den Monaten dazwischen ist viel geschehen. Die Stadt knüpfte enge Kontakte nach Novovolynsk in der Westukraine, sie feierte den ukrainischen Nationalfeiertag am 24. August und nahm zusätzlich 528 Menschen aus dem Land auf, obwohl sie wegen der Erstaufnahmeeinrichtung nicht dazu verpflichtet war.
Rathaus-Chef mit Empathie
Bergmann, der am 30. Mai 2021 zum OB gewählt wurde und am 1. September 2021 das Amt antrat, kam mit dem Blick von außen in die 80.000-Einwohner-Kommune. Geboren 1971 in München, aufgewachsen in einer bayerischen Kleinstadt, studierte er Volkswirtschaftslehre, Finanzwirtschaft sowie Regionalplanung und arbeitete danach als Berater. Er war Präses (Präsident) der Handelskammer Hamburg, einer der mächtigsten Institutionen der Stadt. „Mann aus der Wirtschaft wird Bürgermeister“, könnte man meinen, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Bergmann ist „Kommunal-Profi“.
„Die Optimierung von Geschäftsprozessen in der Automobilindustrie hat mich nie interessiert“, sagt er. Stattdessen beriet er den öffentlichen Sektor und hatte im Laufe der Jahre gut hundert Rathäuser und Landratsämter von innen gesehen. Hinzu kommt: Politik lernte er am Küchentisch, sein Vater war Bürgermeister. Die Flüchtlingsperspektive ist ihm vertraut. Seine Frau, die Künstlerin Nazanin Romy, floh vor zehn Jahren aus dem Iran nach Deutschland.
Städtischer Wohnungsgipfel
„Als der Krieg ausbrach, war ich ratlos und geschockt, wie alle anderen“, sagt Bergmann. Dabei beließ er es nicht. Als die ersten Flüchtlinge eintrafen, lud er die städtische Wohnungsbaugesellschaft, die Genossenschaften und Privatleute zu einem Wohnungsgipfel ein. „Wir haben auf diese Weise Wohnraum mobilisiert, der sonst nicht auf den Markt gekommen wäre.“ So habe ein Ehepaar, deren Eltern gestorben waren, das Haus für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, statt es auszuräumen und zu verkaufen. In der städtischen Wohnungsbaugesellschaft werden monatlich etwa 20 Wohnungen frei. Drei bis vier davon sind für Menschen aus der Ukraine reserviert, damit Einheimische nicht das Nachsehen haben.
Bei den Kindergartenplätzen geht es der Reihe nach. Das Jobcenter veranstaltete eine Messe für Geflüchtete, die sich explizit nicht nur an solche aus der Ukraine richtete. Bergmann ist überzeugt: Am schnellsten funktioniert Integration über die Arbeit. Inzwischen haben diverse Ukrainerinnen in der Stadt einen Job gefunden, allerdings meist nicht in ihrem Beruf. „Da gibt es noch Potenzial nach oben“, sagt der OB.
Der Zufall spielt mit
Als Glücksfall stellte sich eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung heraus, die aus der Ukraine stammt. Sie erzählte dem OB, dass sie aus der Kindheit eine enge Mitarbeiterin von Borys Karpus, dem Bürgermeister von Novovolynsk in der Westukraine, kennt. Das Gespräch wurde zum Startpunkt einer Partnerschaft zwischen den Städten und ihren Bewohnern.
Im Februar 2022 rollte der erste Hilfstransport aus Neumünster nach Novovolynsk, beladen mit Powerbanks, Konserven, Babynahrung, Kleidung. Die Spendenbereitschaft war groß, Bergmann half beim Packen und fragte bei Borys Karpus immer wieder nach: „Was braucht ihr?”. Novovolynsker Kindergärten erhielten Generatoren und die Stadt Geld, zum Beispiel für die Errichtung von Häusern in Fertigbauweise.
Kurz vor Ostern 2022 kam eine überraschende Bitte: eine Ferienfreizeit für Kinder, denn im Novovolynsker Sommercamp leben inzwischen Binnenflüchtlinge. Bei Bergmann funkte es. Er war bei den Falken und kennt solche Ferienfreizeiten. Ergebnis: Den Sommer 2022 verbrachten 120 Jugendliche aus Novovolynsk zusammen mit Neumünsteraner Jugendlichen unter anderem im Ferien-Zeltlager des SV Tungendorf am Stocksee. Für dieses Jahr ist eine Wiederholung geplant. Eine Gegeneinladung hat Novovolynsk schon ausgesprochen. Wenn der Krieg vorbei ist, will die Stadt ihre vielen persönlichen Kontakte vertiefen.
Weitere Informationen:
neumuenster.de/ukraine-hilfe