„Die Menschen merken, dass es ums Ganze geht“

Wie kann Europa noch besser werden und die Kommunen stärker einbinden? Ein Gespräch mit den Spitzenkandidaten der SPD für die Europawahl 2019, Katarina Barley und Udo Bullmann.
von Karin Billanitsch · 11. April 2019
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Die Europawahl am 26. Mai gilt als richtungsweisend – mehr Zusammenhalt in Europa oder mehr Nationalismus. Mit welchen Themen können SozialdemokratInnen die Bürger in den Städten und Gemeinden erreichen und von einem gemeinsamen Europa überzeugen?

Katarina Barley: Europa ist eine einzigartige Gemeinschaft, die unserem Kontinent seit mehr als siebzig Jahren Frieden und wirtschaftlichen Zusammenhalt garantiert. Jetzt müssen wir den nächsten Schritt gehen und für ein sozial gerechtes Europa sorgen. Die Menschen müssen konkret spüren, dass Europa für sie da ist – und nicht nur für Banken, Konzerne und Großunternehmen. Deshalb ist es wichtig, die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu stärken. Dazu gehören faire Löhne: gleiches Geld für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Und natürlich die gleiche Bezahlung für Männer und Frauen. Ein europäischer Mindestlohn, der sich an der Wirtschaftskraft des jeweiligen Landes orientiert, führt dazu, dass viele Menschen mehr verdienen – auch in Deutschland. Wenn 60 Prozent des mittleren Einkommens des jeweiligen Landes als Untergrenze verankert werden, dann würden wir in Deutschland einen Mindestlohn von 12 Euro bekommen. In Europa muss wirklich jeder von seiner oder ihrer Arbeit leben können, egal, wo er oder sie zu Hause ist. Das verstehe ich unter einem sozialen Europa.

Rechtspopulistische und -radikale Parteien haben in Europa an Einfluss gewonnen. Ein Grund: Viele Menschen haben Angst vor den Veränderungen, die Migration, Digitalisierung und Globalisierung mit sich bringen. Wie lässt sich diese Angstspirale stoppen?

Udo Bullmann: Durch entschiedene Politik. Durch Klarheit und Haltung. Genau daran hat es in vielen Hauptstädten, aber auch in Brüssel seit Jahren gefehlt. Die Gruppe der konservativen Parteien, organisiert in der EVP, hat zwar fast alle wichtigen Posten besetzt, aber sie hat nichts aktiv gestaltet – wir wollen das ändern. Mit einem starken Europa, das sich zum Beispiel auf armutsfeste Mindestlöhne verständigt und auf auskömmliche Renten. Wir sehen ja selbst am französischen Präsidenten Macron und der französischen Protestbewegung, dass proeuropäische Rhetorik nicht reicht, wenn keine soziale Politik dazu kommt. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob wirklich etwas vorangetrieben wird in ihrem Interesse, oder ob am Ende nicht doch wieder nur endlos geredet wird.

2018 haben die Oberbürgermeister der Städte Köln, Bonn und Düsseldorf angeboten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Aus der Grundwertekommission der SPD haben Gesine Schwan und Gustav Adolf Horn einen Vorschlag zur Migration in Europa gemacht, der in die gleiche Richtung geht: Die Bürger und Kommunen sollen selbst entscheiden, wieviel Offenheit für Flüchtlinge sie vor Ort wünschen. Was halten Sie davon?

Katarina Barley: Das ist ein toller Vorschlag! Integration findet vor Ort statt. Hier entscheidet sich, ob sie gelingt oder auch, ob sie misslingt. Unsere Kommunalpolitikerinnen und -politiker wissen doch am allerbesten, wie groß die Integrationsleistung bei ihnen zu Hause tatsächlich ist. Sie wissen, was die Verwaltung schafft, wieviel Geld da ist und wissen auch, was ihre Bürgergesellschaft in der Lage ist, für Schutzsuchende auf die Beine zu stellen. Und wir haben erlebt, wozu man vor Ort in der Lage ist. Das macht mich immer noch unglaublich stolz! Aber ich weiß auch, dass das nicht an die Substanz unserer Kommunen gehen darf. Deshalb habe ich mich dafür stark gemacht, dass der Vorschlag von Gesine Schwan in unser Europawahlprogramm aufgenommen wird. Städte und Kommunen, die sich bereit erklären, Geflüchtete aufzunehmen, sollen bei den Integrationskosten und zusätzlich in gleicher Höhe bei kommunalen Entwicklungskosten finanziell unterstützt werden. Ich will, dass hierfür ein europäischer Integrations- und kommunaler Entwicklungsfonds eingerichtet wird. Das ist wertvoll investiertes Geld in unsere Städte und Gemeinden, in unsere humanitäre Verantwortung und für einen starken Zusammenhalt in Europa.

Sollten die Kommunen EU-weit nicht generell mehr Entscheidungsspielräume bekommen, also selbst politische Akteure innerhalb des EU-Gemeinwesens werden?

Udo Bullmann: Es gibt in Brüssel den „Ausschuss der Regionen“, der dabei ein Stück weit mithelfen soll. Der könnte in Zukunft eine noch wichtigere Rolle einnehmen. Aber generell gilt doch jetzt schon: Europa öffnet den Kommunen viele neue Möglichkeiten. Viele vernünftige Projekte kommen nur zustande, weil die EU beträchtliche Kostenanteile übernimmt. Ich wünsche mir, dass Regionen, Städte und Gemeinden das noch mehr nutzen, dass sie sich gleichzeitig aber auch aktiv an der Debatte über die künftigen Schwerpunkte beteiligen. Als Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament kämpfe ich massiv für eine Ausweitung der europäischen Investitionsprogramme in die Infrastruktur. Da brauchen wir an der Basis Bündnispartner, die auch inhaltlich Impulse geben. Also: Nur zu, wenn es um Forderungen und Vorschläge geht! Uns hilft das, vernünftige Prioritäten zu setzen.

Wie können Kommunen konkret die europäischen Leitideen der Solidarität, Weltoffenheit und des Friedens stärken? Welchen Wert messen Sie hier etwa Städtepartnerschaften zu?

Katarina Barley: Es muss klar sein, dass die demokratische Struktur, die den Menschen am allernächsten ist, stärker von Europa unterstützt wird. Deshalb bin ich überzeugt: Wir brauchen eine engere Verbindung zwischen Europa und den Kommunen. Damit meine ich nicht nur die Förderung von Städtepartnerschaften, die wahrscheinlich mehr für die Völkerverständigung in Europa getan haben als so manches Staatsbankett. Gerade jetzt, da der Zusammenhalt Europas gefährdet ist, will ich, dass wir dafür mehr Geld in die Hand nehmen. Es geht vor allem um die öffentliche Daseinsvorsorge, also um kommunale Wasserversorgung, Abfallwirtschaft oder den öffentlichen Nahverkehr. Es ist wichtig, dass die Zusammenarbeit der Kommunen in diesen Bereichen erleichtert wird.

Bei der vergangenen Europawahl fanden gerade einmal 35 Prozent der Anfang-20-Jährigen den Weg an die Urne. Wie kann man Jüngere stärker für Europa begeistern und ihnen bewusstmachen, dass die EU mehr ist als ein gemeinsamer Markt mit Gurkenkrümmungsnormen?

Udo Bullmann: Die Wahrnehmung der Europäischen Union auch in der deutschen Öffentlichkeit hat sich in den vergangenen Jahren massiv verändert. Die Menschen merken, dass es ums Ganze geht. Dass die rechten Spalter und Hetzer dieses ganze Europa aushebeln wollen, unsere große Idee von Gemeinsamkeit und Vielfalt zugleich. Für mich persönlich war Europa immer mehr als eine internationale Kooperation. Es ist ein Lebensgefühl, das uns geprägt hat und das viele von uns nicht mehr missen wollen. Die Leute merken, dass das jetzt von rechts bedroht wird. Und die große Mehrheit wird das am 26. Mai auch zum Ausdruck bringen, da bin ich mir sehr sicher. Schauen Sie auf Großbritannien, wo viele Jüngere beim Brexit-Volksentscheid nicht mitgemacht hatten und sich danach wegen des für sie unerwarteten Ergebnisses frustriert die Augen rieben: Das hat überall in Europa gerade bei den Jüngeren etwas ausgelöst. Es geht um ihr Leben, ihre Zukunft, und sie merken das. Dies ist auch der Punkt, warum ich denke, dass die SPD diesmal besonders gute Chancen haben wird. Es gibt keine andere politische Kraft, die so entschieden und klar für ein starkes Europa steht. Die Konservativen sind gespalten und mutlos. Grüne und Linke sind in ihrer jeweiligen Klientelpolitik gefangen.

Derzeit gehen viele Kinder und Jugendliche für mehr Klimaschutz auf die Straße. Viele EU-Entscheidungen betreffen diese junge Generation. Was halten Sie von Forderungen, das Wahlalter bei Europa- und Kommunalwahlen auf 16, oder sogar 14 Jahre zu senken?

Udo Bullmann: Ich habe viel Sympathie dafür, das Wahlalter generell auf 16 Jahre zu senken. Das ist ein Alter, in dem junge Menschen sehr interessiert sind an gesellschaftlichen Themen, in dem sie sich erstmals eine eigene Meinung bilden und dabei in den Schulen durch kompetente und vielfältige Informationen unterstützt werden. Dann sollten wir ihnen auch zutrauen, diese Meinung an der Wahlurne auszudrücken. Aber wir sollten nicht denken, dass damit alleine schon alles getan ist: Entscheidend ist doch, dass sie auch im Alltag mit ihren Meinungen ernst genommen werden. Nur dann werden sie sich dauerhaft für Politik interessieren. Nehmen wir die Freitagsdemonstrationen für konsequenten Klimaschutz: Ich finde dieses Engagement vorbildlich. Ich sehe es als Unterstützung und wünsche mir, dass wir gemeinsam Erfolg haben. Von den Konservativen habe ich dazu nur gequälte Kommentare und die Erinnerung an die Schulpflicht gehört. Der FDP-Chef hat voller Arroganz die jungen Leute für inkompetent erklärt. Nein, sind sie nicht. Sie haben Recht und ich wünsche mir, dass sie so engagiert bleiben.

Zum ersten Mal will ein Land die Europäische Union verlassen. Sie sind Tochter eines Briten und einer Deutschen. Wie erfahren Sie den Brexit?

Katarina Barley: Für mich ist Europa etwas sehr Persönliches. Meine Kinder haben Großeltern aus vier europäischen Ländern, die vor nicht allzu langer Zeit noch Krieg gegeneinander geführt haben. Ich selbst habe die deutsche und die britische Staatsbürgerschaft, der Brexit bewegt mich auch deshalb tief. Noch weiß niemand genau, wie es weitergeht, aber klar ist, dass der Brexit verheerende Folgen für die Einheit Europas hat. Ich denke aber, dass viele Menschen aufgerüttelt werden. Durch die aktuellen Entwicklungen wird ihnen bewusst, welchen Wert Europa hat, dass es aber keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Deshalb müssen wir für Stabilität und Verlässlichkeit sorgen – mit einem sozialen Europa der Bürgerinnen und Bürger. Unser Europa ist gut, aber es kann noch besser werden – wenn wir es gemeinsam machen.

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Autor*in
Karin Billanitsch

ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.

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