„Europa ist nicht das Problem, Europa ist die Lösung“
Jetzt, wenige Wochen vor der Europawahl, kann man sie wieder deutlich vernehmen: die Stimmen derjenigen, die Brüssel als „bürokratisches Monster“, „ineffizient“ und „bürgerfeindlich“ beschimpfen. Oft wird diesen Kritikern entgegengehalten, dass die Menschen in Deutschland ganz erheblich von der Europäischen Union profitieren. Konkrete Belege für diese These werden aber leider nur selten mitgeliefert. Dabei gibt es eine Fülle von Beispielen, die zeigen: Europa ist keineswegs nur „Brüssel“ – Europa sind die Städte und Gemeinden, die Regionen in der EU. Mehr als 500 Millionen Menschen profitieren von EU-Programmen.
Fördermittel für den Strukturwandel
„Wir erhalten Fördergelder im Umfang von jährlich 35,4 Millionen Euro von der Europäischen Union. Mit diesem Geld lassen sich viele Maßnahmen zur Verbesserung des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung sowie des Umweltschutzes umsetzen. Auch soziale Projekte und Bildungsangebote werden mit dem Geld finanziert“, sagt Petra Thetard, Leiterin der Stabsstelle Internationale Beziehungen und Europabeauftragte der Stadt Essen.
Der Strukturwandel der einstigen Kohle- und Stahlstadt, die Konversion alter Industrieflächen, ist mit viel EU-Geld vorangetrieben worden. Die Zeche Zollverein, heute Weltkulturerbe und Standort für viele innovative Firmen, erhielt 65 Millionen Euro aus Brüssel. Und aus der quer durch das Ruhrgebiet fließenden Emscher ist wieder ein Fluss ohne Abwasserbelastung geworden. Rund fünf Milliarden Euro hat ihre Renaturierung gekostet. Allein auf dem Gebiet der Stadt Essen sind dafür aus EU-Mitteln 490 Millionen Euro investiert worden. Die Rheinische Bahn, wo einst Kohle und Stahl transportiert wurden, ist inzwischen zu einer beliebten Trasse für Fahrradfahrer und Fußgänger geworden. Sie ist heute schon durchgängig zwischen Essen und Mülheim an der Ruhr befahrbar. „Das sind Maßnahmen, die in die Zukunft weisen“, erklärt Thetard. Von Pendlern und Touristen werde die Route sehr gut angenommen. Ziel sei es, mit Hilfe der EU einen durchgängigen Radschnellweg quer durch den „Pott“ von Hamm bis Duisburg zu bauen und somit die Belastung der Anwohner durch Lärm und PKW-Abgase spürbar zu senken.
19 Milliarden Euro fließen nach Deutschland
Deutschland erhält zwischen 2014 und 2020 19,2 Milliarden Euro aus den EU-Struktur- und Investitionsfonds, vor allem dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) sowie dem Europäischen Sozialfonds (ESF). Matthias Groote, Landrat im niedersächsischen Landkreis Leer, ist begeistert, weil mit EU-Hilfe 2018 eine bemerkenswerte Ausstellung zur zeitgenössischen amerikanischen Kunst realisiert werden konnte. „American Dream“ wurde in der Kunsthalle in Emden und im benachbarten Assen in den Niederlanden gezeigt. Knapp 200.000 Besucher sahen die Werke von Andy Warhol und anderen namhaften Künstlern. „Ein riesiger Erfolg“, so Groote, der von 2005 bis 2016 dem Europaparlament angehörte. Die EU habe in der Ems-Dollart-Region mit dem gemeinsamen Binnenmarkt für einen bemerkenswerten Aufschwung gesorgt. „Die früheren Nachteile der Grenzregion verkehren sich heute in Konkurrenzvorteile. Europa ist nicht das Problem. Europa ist die Lösung für viele Herausforderungen“, sagt der SPD-Politiker.
Aber: „Dadurch, dass die EU-Gelder in Deutschland vom Bund oder den Ländern verwaltet werden, ist nicht immer erkennbar, wieviel Förderung aus Brüssel eigentlich bei uns ankommt“, sagt Thetard. Wer weiß schon, dass über das Programm „Erasmus +“ alleine im Studienjahr 2015/16 mehr als 7.000 junge Menschen aus NRW ein Auslandsstudium aufnehmen konnten und umgekehrt knapp 4.000 Studentinnen und Studenten über das Programm nach NRW kamen?
Es gibt aber auch viele gesellschaftspolitische Projekte, an denen sich die EU beteiligt. An der Volkshochschule in Essen etwa holen rund 300 Menschen jedes Jahr ihren Schulabschluss nach – gefördert aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF). Dessen Ziel ist es, Armut in Europa nachhaltig zu bekämpfen und Menschen Chancen zu eröffnen. Und überhaupt legt die Essener Europabeauftragte Thetard viel Wert auf die Feststellung, dass es bei all ihren Aktivitäten nicht nur ums Geld gehe. „Die EU ist auch ein Friedensprojekt. Es geht um Freiheit und Demokratie. Diese Werte sind in Gefahr“, sagt sie. In Zeiten von „fake news“ sei es ganz besonders wichtig, „korrekt und neutral“ über die EU zu sprechen, sagt Thetard. „Noch nie“, davon ist sie überzeugt, ist eine Europawahl so wichtig gewesen, wie im kommenden Mai. Wir sind alle gefordert.“