„Gerechte Chancen für alle Kinder ermöglichen“

Viele Familienleistungen sind fehlgeleitet oder zu bürokratisch. AWO-Präsident Wilhelm Schmidt fordert im Gespräch mit der DEMO, Hilfen müssten zielgerichteter werden und lobt die Idee einer Grundsicherung für Kinder.
von Karin Billanitsch · 16. September 2016
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DEMO: Herr Schmidt, Alleinerziehende müssen laut einer Bertelsmann-Studie oft mit finanziellen Problemen kämpfen. Wieso bedeuten Kinder im wohlhabenden Deutschland immer noch ein Armutsrisiko?

Wilhelm Schmidt: Die Ergebnisse der Bertelsmann-Studie haben mich überhaupt nicht überrascht. Die in der Bundesrepublik bisher einzigartige Langzeitstudie der Arbeiterwohlfahrt und des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) zeigte leider schon 2012 ähnliche Befunde. Die Frage ist also, warum dagegen nichts unternommen wird, wenn wir die Ergebnisse doch seit Jahren kennen. Trotz großer Mehrheiten konnte diese Regierungs­koalition keine Möglichkeiten struktureller Verbesserungen schaffen.

Welche Verbesserungen fordern Sie?

Vor allem eine ausreichende Finanzierung des Sozialstaates, das hat die Arbeiterwohlfahrt – auch als Partnerin der Kommunen – immer wieder betont. Es nützt nichts, wenn Bundespolitik sich offensichtlich immer in großen Finanzdebatten ereignet – sich aber nicht zu einem großen Wurf bei der Neuordnung der föderalen Finanzbeziehungen durchringt.

Auch in Sachen Steuergerechtigkeit kann einiges getan werden. Entscheidend ist auch, dass wir im Bereich der Familienleistungen sehr viele fehlgeleitete Förderinstrumente haben. Dazu rechne ich zum Beispiel das Ehegattensplitting. Das Ziel muss es sein, allen Kindern ein chancengerechtes Aufwachsen zu ermöglichen. Davon sind wir derzeit meilenweit entfernt.

Warum kommt das Geld nicht zu den Richtigen?

Wir empfinden es zum Beispiel immer wieder als unerträglich, dass es unglaublich viele bürokratische Hemmnisse für Alleinerziehende gibt, an diese Fördermittel heranzukommen. Abgesehen davon müssen die Leistungen zielgerichteter werden und bei denen ankommen, die sie wirklich benötigen. Ich weiß nicht, ob diese Koalition noch die Kraft dazu hat. Wir arbeiten hier in engem Schulterschluss mit der SPD und Sigmar Gabriel, aber ob uns gelingt, was Kommissionen jahrelang nicht geschafft haben, weiß ich nicht.

Als Beispiel für bürokratische Hemmnisse nennen Praktiker oft die Bildungsgutscheine. Warum?

Eindeutig ist der Aufwand zu hoch. Auch in den kommunalen Behörden wird der Aufwand für die vielen Einzelleistungen in Höhe von zehn oder 15 Euro im Übrigen als zu hoch angesehen.

Ist die Grundidee, bedürftigen Kindern Teilhabe an Bildung oder Sport zu ermöglichen, nicht gut?

Man stigmatisiert die Eltern, die sich damit ja als eher bedürftig zu erkennen geben. Außerdem stehen Aufwand und Leistung nicht in einem adäquaten Zusammenhang. Was nützt es, wenn Kinder für zehn Euro im Monat in einen Sportverein gehen können, ihre Eltern aber keine Sportkleidung kaufen können? Die Idee mag gut sein, die Umsetzung ist es nicht. Viele andere Leistungen für Kinder und Familien sind ebenfalls zu kompliziert.

Nennen Sie bitte ein anderes Beispiel.

Nehmen wir als Beispiel das komplizierte Verfahren beim Kinderzuschlag.  Da hat man als Wohlfahrtsorganisation oder auch als kommunale Verwaltung erst einmal die Aufgabe, die Menschen zu beraten, um die Leistung überhaupt für die Leute zugänglich zu machen. So gesehen sind die 2.400 Kindertagesstätten, die die AWO betreibt, ja eigentlich Familienzentren, von denen wir täglich erfahren, wo der Schuh drückt.

Haben Sie einen Vorschlag für ein einfacheres System? Diskutiert wird  etwa die Grundsicherung für Kinder.

Wir müssen erst einmal wirklich Licht in den Dschungel der vielen familienpolitischen Leistungen bringen. Eine Grundsicherung, also Existenzsicherung für Kinder könnte das System erheblich vereinfachen. Durch eine systematische Veränderung in den Abläufen könnte man Aufwand und Kosten reduzieren.

Die Ergebnisse der eingangs genannten Studie legen den Schluss nahe, dass viele Väter keinen Unterhalt zahlen. Was kann man tun, um die Ansprüche besser durchzusetzen?

Es ist ein gesellschaftlicher Skandal, dass jemand der unterhaltsverpflichtet ist, nicht zahlt. Zwar springt der Staat ein, indem er Unterhaltsvorschüsse bezahlt. Doch diese sind zeitlich und in der Höhe zu sehr begrenzt. Dem Staat müssten für nachgewiesene Fälle der willkürlichen Nichtzahlung schärfere Instrumente an die Hand gegeben werden.

Kitagebühren sind von Kommune zu Kommune und je nach Träger sehr unterschiedlich – empfinden Sie das als ungerecht?

Das ist richtig. Es gibt eindeutige Beschlüsse der Arbeiterwohlfahrt, dass Bildung kostenfrei zu sein hat, und zwar von der Krippe bis zur Universität. Die Arbeiterbewegung war immer auch eine Bildungsbewegung. Deswegen haben wir genau diesen Anspruch – seit der Gründung der AWO vor 97 Jahren – immer wieder verfolgt und versucht, durchzusetzen.

Ein Bürgermeister einer finanzschwachen Kommune würde vielleicht sagen: Ich würde gern kostenlose Kitas haben, aber es ist nicht genug Geld da.

Das wäre nachvollziehbar und müsste deshalb ein Aspekt des  Länderfinanzausgleichs werden. Wir sind für eine dauerhafte Beteiligung des Bundes an den Sach- und Personalkosten der Kitas. Kindliche Frühförderung muss eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein.

Der Länderfinanzausgleich läuft 2019 aus. Was sollte künftig anders gemacht werden?

Er sollte künftig ein Strukturförderelement werden. Er sollte so gestaltet werden, dass allen strukturschwachen Gebieten geholfen werden kann, Schwächen zu überwinden. Nicht nur im Osten. Mit Blick auf diese Koalition möchte ich sagen, es wäre fatal, wenn die Entscheidung darüber in die nächste Legislaturperiode übertragen wird. Diese Koalition hat jetzt die Chance, diesen Solidarzuschlag mit neuer Zwecksetzung zu beschließen. Das wäre eine ganz wichtige Botschaft, gerade auch an die Kommunen.

Mit welchen Mitteln kann auch ­eine ­finanzschwächere Kommune Armutsprävention betreiben?  

Ich glaube, dafür gibt es kein Patentrezept. Entscheidend scheint mir zu sein, dass der gute Wille da ist, Prävention im sozialen Raum zu betreiben. Dann findet sich auch in schwierigen Zeiten ein guter Weg. Und der heißt: Nutzung der wenigen Möglichkeiten, das aber gemeinsam. Wir müssen alle an einen Tisch holen, auch verschiedene Wohlfahrtsverbände. Alle müssen im Stadtteil, im Dorf, in der Region zusammenarbeiten.

Soziale Berufe wie Erzieherin oder auch Pfleger werden in der Gesellschaft gering geschätzt, dabei braucht sie immer mehr  Menschen, die in diesen Berufen arbeiten. Was muss passieren, damit soziale ­Arbeit mehr Anerkennung findet?
Die AWO kämpft seit Jahren gemeinsam mit anderen Wohlfahrtsverbänden für einen Tarifvertrag Soziales, der für alle sozialen Berufe gelten soll. Allerdings stoßen wir immer wieder auf Vorbehalte. Wenn wir einen bindenden Tarifvertrag hätten, bräuchte der Wettbewerb zwischen den sozialen Leistungsanbietern nicht mehr über die Lohnkosten geführt werden. Die Bezahlung der Beschäftigten würde transparenter, sicherer und damit attraktiver.

Mit den neuen Pflegestärkungs­gesetzen soll ja etwa der Pflege­beruf aufgewertet werden. Wird das funktionieren?

Das jetzige zweite Pflegestärkungs­gesetz ändert vorerst nichts an der unzureichenden Personalsituation. Ziel muss aber eine bessere Personalausstattung in den Pflegeeinrichtungen sein. Derzeit ist lediglich ein wissenschaftlicher Auftrag zur Personalbedarfsmessung vorgesehen. Das ist zu wenig. Dass wir mehr Personal benötigen wissen wir schon jetzt. Mit den Ergebnissen der Bedarfsmessung wird erst 2020 gerechnet. Damit können wir nicht zufrieden sein.  

Fachkräfte werden auch für die Flüchtlingsintegration gesucht. Wie sieht es hier aus?

Die AWO übernimmt an etwa 50 Standorten in Deutschland die Erstaufnahme von Flüchtlingen und leistet an ungefähr 120 weiteren Standorten Integrationsberatung, organisiert Maßnahmen und Projekte. Dafür stellen wir engagierte junge Leute ein, die die noch viel größere Anzahl von ehrenamtlichen, freiwilligen Helfern koordinieren, bei ihrer Arbeit unterstützen und die Integrationsaufgaben steuern. Und was machen wir mit ihnen?

... Sagen Sie es mir.
Wir geben ihnen einen Zeitvertrag. Und wenn sie ein Angebot für eine f­este Stelle bekommen, sind sie nach drei oder vier Monaten weg, und wir fangen noch mal von vorn an. Das ist unerträglich nicht nur für uns als Träger, sondern auch für die betroffenen Menschen.

Liegt das an den Strukturen der ­Projektfinanzierung?
So ist es. Es ist keine längere Planung möglich, weil Bund und Länder sich in dieser Zeit mit der Finanzbeteiligung des Bundes herumgeschlagen haben. Am Ende ist es der Träger, den die Kommunen beauftragt haben, der diese Probleme lösen muss. Wir warnen unsere Träger vor Ort, sie sollen keine finanziellen Abenteuer eingehen.

Ebbt die Hilfsbereitschaft Ehrenamtlichen mittlerweile ab?

Nein, das sehe ich nicht. Es ist allerdings in der Erstaufnahme ein wenig ruhiger geworden, so dass wir uns auf die Integrationsmaßnahmen konzentrieren können. Wenn wir das nicht ernst nehmen, wird es richtig schwierig in diesem Land.

Man muss sich bewusst machen: Die Zugewanderten erleben zuerst ein unglaublich bürokratisches Asylverfahren, dass von niemandem beherrscht wird, von Herrn De Maiziere am wenigsten. Dazu kommt eine Erstaufnahme in Containern oder Turnhallen. Schließlich die schwierigen Umstände bei der Integration. Aus unserem Projekt in Wolfenbüttel höre ich, dass vor Ort Mittel aus sechs verschiedenen Töpfen beantragt werden müssen, um die Flüchtlingsarbeit zu finanzieren. Damit beschäftigt sich eine Halbtagskraft. Was ist das für ein Zustand?

 

 

Autor*in
Karin Billanitsch

ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.

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