Kaum Anzeichen für mehr Menschenhandel in Deutschland
Kaum jemand konnte die Situation überblicken im Frühjahr 2022. Am Berliner Hauptbahnhof kamen ukrainische Geflüchtete täglich zu tausenden an. Sie trafen hier auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in gelben und orangenen Westen, aber auch auf Einzelpersonen, die unterstützen oder eine Unterkunft anbieten wollten. Oder ganz anderes im Schilde führten. Die Bundespolizei berichtete von vermeintlichen Helfern, die Frauen dubiose Angebote machen. Manche stellten ihnen zusätzlich zu einem Schlafplatz auch Geld in Aussicht. Vor solchen Fällen gewarnt wurde nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in München, Stuttgart, Heilbronn und anderen Städten.
OSZE: Menschenhandel hat weltweit zugenommen
Ein knappes Jahr später sorgt ein Interview in der Zeitung „Die Welt“ für Aufsehen. Darin berichtet Helga Maria Schmid, Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), von einer globalen Zunahme des Menschenhandels. Auf bis zu 27 Millionen schätzt die OSZE die Zahl der Betroffenen pro Jahr. Schmidt sagt auch: Die weltweite Online-Suche nach sexuellen Dienstleistungen und pornografischen Darstellungen mit ukrainischen Frauen und Kindern habe seit Beginn des Krieges um bis zu 600 Prozent zugenommen. Und auch sie warnt: Potenzielle Opfer würden im Internet mit falschen Versprechungen geködert, in privaten Unterkünften missbraucht oder direkt an der Grenze von verdeckt arbeitenden Menschenhändlern abgefangen.
Bisher gibt es allerdings kaum handfeste Belege dafür, dass diese Befürchtung in Deutschland auch eingetreten ist. Beim Verein Frauenhauskoordinierung e.V. gibt man sich zurückhaltend. „Wir wissen, dass bereits Frauen in Frauenhäusern Schutz suchen“, teilt Referentin Elisabeth Oberthür mit Blick auf ukrainische Geflüchtete mit. Daten dazu liefere aber erst die Frauenhaus-Statistik für 2022, die im Herbst dieses Jahres erscheinen wird. Ohnehin rechnet sie damit, dass sich die Entwicklung erst verzögert in Frauenhäusern widerspiegeln wird. Im Übrigen gebe es aufgrund der unbefriedigenden Finanzierungslage der Häuser teils hohe bürokratische Hürden gibt, bis die Frauen aufgenommen werden können.
Ausmaß des Menschenhandels in Deutschland noch unklar
Auch die Fachberatungsstellen gegen Menschenhandel verzeichnen bisher keinen Ansturm von Menschen aus der Ukraine. Es könne sein, dass sich das wahre Ausmaß erst in den kommenden Monaten zeigen wird, sagt Sophia Wirsching, Geschäftsführerin beim Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. (KOK). Denn es dauere immer erst eine Zeit, bis jemand, der in einer Ausbeutungssituation festgehalten werde, sich daraus lösen könne oder entdeckt werde.
Gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium hat der KOK in einer Studie untersucht, was es bisher an Belegen für Ausbeutung und Zwang gibt. Die Ergebnisse fasst Wirsching so zusammen: „Es gibt Menschenhandel in Deutschland, davon sind auch Ukrainerinnen und Ukrainer betroffen. Das war auch schon vor dem Kriegsausbruch so. Aber anders, als es die Medien suggeriert haben, scheint es nicht zu diesem sprunghaften Anstieg gekommen zu sein, und schon gar nicht im Bereich der sexuellen Ausbeutung.“ Die Gefahr scheine eher im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen und in der 24-Stunden-Pflege zu liegen. Aus der Ukraine seien Menschen nach Deutschland gekommen, die dringend ein Einkommen benötigten und auch arbeiten wollten – da könne es leicht zu Ausbeutung kommen. Zugleich spricht Wirsching von einem „riesigen Dunkelfeld“. Das Phänomen der Arbeitsausbeutung sei vielen Strafverfolgungsbehörden noch gar nicht ausreichend bewusst.
Erfolgreiche Prävention
Dass bisher nur wenige Fälle von sexueller Ausbeutung bekannt sind, lässt sich auch als Präventionserfolg interpretieren. „Wir merken, dass es gut war, dass wir gerade in den ersten Wochen des Krieges so aktiv waren und Flyer mit der Nummer des Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen verteilt, haben“, sagt Wirsching. Die Hotline vermittelt die Frauen auch an Fachberatungsstellen, wo viele ukrainisch- und russischsprachige Sprachmittlerinnen tätig sind. Außerdem, berichtet Wirsching, seien Ukrainerinnen in der Regel gut über die sozialen Medien miteinander vernetzt. Deshalb werden auch über diese Kanäle Beratungen angeboten.
Die Kommunen spielen im Kampf gegen Menschenhandel eine wichtige Rolle, unterstreicht die Expertin vom KOK. Sie finanzieren Beratungsstellen und können helfen, alle wichtigen Akteure zusammenzubringen. Hilfreich sei, wenn Kommunen verantwortliche Ansprechpartner in den Behörden benennen, etwa in der Ausländerbehörde, im Gesundheits- oder Sozialamt oder im Jobcenter. Denn nicht jeder Behördenmitarbeiter wisse, welche Weisungen und Paragrafen man bemühen kann, um die Rechte von Opfern zu wahren.
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.