Nach Anschlag in Hanau: Warum sich Abdullah Unvar in der SPD engagiert
Beim rechtsterroristischen Anschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau wurde ihr Cousin Ferhat Unvar ermordet. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf den Jahrestag?
Seit zwei Wochen schlafe ich kaum noch. Die Erinnerungen und Gefühle kommen alle hoch. Es ist sehr schwierig und sehr schmerzhaft. Ich denke an das, was am 19. Februar passiert ist. Daher fällt es mir nicht leicht. Es ist nicht nur bei mir so, sondern auch bei meiner Familie und den anderen acht Familien.
Wie verbringen Sie den Jahrestag?
Nach der offiziellen Gedenkfeier mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Ministerpräsident Volker Bouffier und dem Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky werden wir uns mit den anderen Familien zusammentun und in die Räumlichkeiten der „Initiative 19. Februar“ gehen. Das ist inzwischen unser gemeinsamer Ort geworden. Wir trauern und lachen dort zusammen. Das gibt uns Stütze und Kraft.
Wie haben Sie am 19. Februar 2020 von den Ereignissen erfahren?
Ich war zu Hause und habe Champions League geschaut. Es war ein Tag wie jeder andere. Gegen 19 Uhr habe ich noch mit meinem Cousin telefoniert. Wir haben alle zwei Tage miteinander gesprochen. Kurz nach 22 Uhr bekam ich einen Anruf, dass ich ganz schnell zum Kurt-Schumacher-Platz kommen soll, dem zweiten Anschlagsort.
Was haben Sie dort erlebt?
Ich habe ganz viele Polizeiautos und Rettungswagen gesehen. Bei einigen liefen noch die Sirenen. Vor dem Kiosk „Arena Bar“ war ein Absperrband. Dahinter standen ganz viele Menschen – die Angehörigen. Ich habe meine Eltern und meine Tante gesehen. Ich habe meine Mutter gefragt, was passiert ist. Sie hat mich angeschaut und ihre Lippen bewegt, aber es kamen keine Worte. Mein Bruder hat mir dann mitgeteilt: „Ferhat wurde erschossen.“ Ich habe gesagt: „Nein, das kann nicht sein. Warum Ferhat? Er ist ein Mensch, der sehr beliebt ist und niemandem etwas antun kann.“
Wie ging es dann weiter?
Wir haben gewartet. Irgendwann kam die Ansage der Polizei, dass sich alle Angehörigen zu einem Bus begeben sollen. Dieser sollte zu einer Sporthalle der Polizei fahren, wo die Angehörigen weiter betreut werden sollten. Meine Eltern und meine Tante sind in den Bus gestiegen. Ich habe zu ihnen gesagt: „Ich bleibe hier. Ich kann hier jetzt nicht weg.“ Meine Beine haben sich nicht mehr bewegt. Ich habe vor dem Kiosk gewartet, eine Stunde, zwei Stunden, vier Stunden. Kurz nach sechs Uhr hat mich mein Vater angerufen. Er hat mir mitgeteilt, dass die Polizei die Namen aller Toten vorgelesen hat, der letzte war Ferhat Unvar. In dem Moment war es so, als würde mir den Boden unter den Füßen weggerissen.
Was haben Sie gedacht, als Sie den Hintergrund des Täters erfahren haben?
Als ich die Bilder der Ermordeten gesehen habe, war mir früh klar, dass es jemand gezielt auf Menschen mit Migrationsgeschichte abgesehen hatte. Aufgrund ihres Aussehens, ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens. Als wir später die Gewissheit hatten, dass der Täter ein rassistisches Attentat geplant hatte, wurde das Ganze noch schmerzhafter. Ich hätte niemals gedacht, dass in meiner Stadt so etwas möglich wäre.
Der Täter war Hanauer, wohnte wie Sie im Stadtteil Kesselstadt. Wie gehen Sie mit diesem Wissen um?
Es ist erschreckend. Es tut weh. Denn man hat sich bestimmt das eine oder andere Mal gesehen. Er war vor der Tat auch schon mehrfach im Kiosk und in der Shisha-Bar, hat sich die Anschlagsorte vorher genau angeschaut. Der Vater lebt immer noch in Kesselstadt, fordert die Waffen seines Sohnes zurück und teilt die Ideologie seines Sohnes. Ich frage mich manchmal: Haben neun Menschenleben nicht ausgereicht? Ich bin ihm zum Glück noch nie begegnet.
Welche Konsequenzen aus der Tat fordern Sie?
Wir Familien fordern ein Jahr danach eine lückenlose Aufklärung. Wir fordern Gerechtigkeit, Konsequenzen und Erinnerung. Wir wissen bis heute nicht, was in der Tatnacht – vor der Tat, während der Tat und nach der Tat – wirklich passiert ist. Ich fordere, dass die Politik hier Verantwortung übernimmt. Denn wir wollen nicht, dass das Leid, das uns angetan worden ist, noch anderen Menschen passiert. Wie konnte es sein, dass der Täter einen Waffenschein besaß? Wie konnte es sein, dass der Notruf in der Tatnacht besetzt war? Wie kann es sein, dass der Notausgang abgeschlossen war? Das war ein Anschlag auf uns alle, auf unsere Gesellschaft. Wir stehen für ein friedliches Zusammenleben, für eine offene, bunte und vielfältige Gesellschaft. Der Täter wollte die Gesellschaft spalten, aber das wird er nicht schaffen.
Inwieweit war der Anschlag für Sie eine Initialzündung, sich stärker politisch zu engagieren?
Für mich gab es nach dem 19. Februar zwei Wege: Entweder ziehe ich mich mit meiner Familie zurück und wir trauern oder ich gehe in die Öffentlichkeit und thematisiere Rassismus, damit sich so etwas in unserer Gesellschaft nicht wiederholt. Das ist mein Anliegen. Viele Menschen haben ihr Vertrauen in die Politik verloren. Ich kämpfe darum, das wieder zurückzugewinnen, aber wir schaffen das nur, wenn wir anfangen, das glaubhaft zu leben.
Am 14. März bewerben Sie sich für die SPD Hanau um einen Sitz im Stadtparlament. Was möchten Sie in Ihrer Stadt verändern?
Ich möchte, dass die Menschen den Behörden wieder vertrauen können. Mein Ziel ist es, auf Augenhöhe mit den Menschen und im Schulterschluss mit außerparlamentarischen Bewegungen und Initiativen Politik zu machen. Der Austausch mit der Basis und der Bevölkerung sind mir sehr wichtig. Deswegen bewerbe ich mich für das Stadtparlament.
Auf ihr politisches Engagement gab es auch überregional sehr viele Reaktionen. Beispielsweise haben sich die stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Serpil Midyatli und Kevin Kühnert lobend geäußert. Was bedeutet Ihnen das?
Es gibt mir Kraft und Energie weiterzumachen. Ich bekomme auch täglich Mails von Menschen in Hanau, die mich in meiner politischen Arbeit unterstützen. Sie sagen: „Du sprichst unsere Sprache. Du verstehst uns und bist auf Augenhöhe mit uns.“ Dadurch bestätigen sie mir noch einmal, dass ich auf dem richtigen Weg bin.