Nürnberg: „Wir sind Anwalt der Menschen in den Stadtteilen“

Gesundheitsförderung auch und gerade für sozial Benachteiligte ist ein großes Anliegen von Fred-Jürgen Beier. Der Leiter des Gesundheitsamtes in der Stadt Nürnberg erläutert im Gespräch mit der DEMO den stadtteilbezogenen Ansatz.
von Karin Billanitsch · 11. Juli 2019
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Nürnberg ist Mitglied im Gesunde-Städte-Netzwerk Deutschland. Die Mitglieder verpflichten sich, ­Gesundheit als Querschnittsaufgabe zu ­sehen und gesundheitsförder­liche Entscheidungen zu treffen. Was bringt dieser Austausch?

In einem Artikel habe ich einmal geschrieben, wenn es das Netzwerk nicht schon gäbe, müsste man es erfinden. Es ist vor 30 Jahren gestartet, und daraus hat sich ein Netzwerk von mehr als 85 Kommunen und Landkreise gebildet. Die Besonderheit besteht darin, dass auf der einen Seite kommunale Vertreter sind, auf der anderen auch Vertreter von Selbsthilfegruppen und Initiativen. Wir haben über die ­Jahre einen intensiven Erfahrungs­austausch über das Gesunde-Städte-Netzwerk ­etabliert.

Konkrete Beispiele?

Es gibt zum Beispiel Kompetenzzentren: Hier erklärt eine Stadt sich bereit, anderen Kommunen zu einem Schwerpunkt­thema, etwa Migration und Gesundheit, Gesundheitsberichterstattung oder Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen Unterstützung anzubieten. Hier kann man sich dann austauschen, auch Tagungen machen. Nürnberg hat den Fokus auf stadtteilbezogene Gesundheitsförderung, wir haben zum Beispiel einen starken Austausch mit München zu diesem Thema und wollen dies im Rahmen eines Kompetenzzentrums erweitern. Auf der jährlichen Mitglieder-Versammlung stellen jedes Jahr zehn Kommunen in kleinen Diskussionsrunden ihren Tätigkeitsbericht vor. Dadurch entsteht ein unwahrscheinlich effektiver Erfahrungsaustausch.

2015 wurde das Bundespräventionsgesetz verabschiedet, 500 Millionen Euro wurden bereitgestellt. Kommt das Geld in den Kommunen an?

Von den 500 Millionen sollen 250 Mil­lionen für lebensweltorientierte Gesundheitsförderung für sozial Benachteiligte fließen. Für uns Praktiker ist das ein wirklicher Quantensprung. In Nürnberg waren wir recht erfolgreich. Wir haben ein Projekt zur stadtteilbezogenen Gesundheitsförderung mit vier Vollzeitstellen in vier Stadtteilen mit einer Laufzeit von vier Jahren starten können, das von der AOK Bayern finanziert worden ist. Das wäre vorher nicht möglich gewesen und ist eine deutliche Verbesserung. Auf der anderen Seite muss man schon einmal die Relationen klarstellen: Allein 90 Millionen gibt die deutsche Tabakindustrie für Tabakaußenwerbung im Jahr aus. Es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen – dennoch sollte man den Kampf nicht aufgeben.

Das Bundespräventionsgesetz hat – trotz aller Fortschritte – auch einige Webfehler: Die Mittel werden zur Verfügung gestellt, um nachhaltige Gesundheitsprojekte zu fördern. Der Haken an der Sache ist aber: Nach vier Jahren hört die Förderung auf. Man hat eine Anschub­finanzierung gegeben und dann sollen die Kommunen das weiterführen. Das geht natürlich nicht auf die Art. Hier wäre dringend eine Novellierung notwendig, damit erfolgreiche Ansätze weiter finanziert und verstetigt werden können.

Wie sieht das stadtteilbezogene ­Projekt bei Ihnen konkret aus?

Das Projekt läuft noch zwei Jahre. Für alle vier Stadtteile sind insgesamt circa 40.000 Euro jährlich als Projektmitttel eingeplant. Am Anfang stand eine Bedarfsanalyse. Wir haben uns einzelne Stadtteile angesehen: Wie ist die gesundheitliche Situation? Welche Daten gibt es? Auf kommunaler Ebene gibt es die Schul­eingangsuntersuchung, da können wir für ganze Jahrgänge den Gesundheits­zustand der Kinder kleinräumig feststellen. Darauf haben wir uns konzentriert.
Das ist ja ein Problem in Deutschland: Es gibt kaum gesundheitliche Daten, die wirklich repräsentativ sind. In anderen Ländern, zum Beispiel Großbritannien, existiert ein nationales Sterberegister, wo man die Daten mit sozialen Daten verknüpfen kann. Es wird dann auf den Totenscheinen auch der soziale Status vermerkt. In Deutschland geht das nicht und wird mit Datenschutz begründet. Ich habe da manchmal den bösen Verdacht, es geht nicht um Datenschutz, sondern um Schutz vor Erkenntnis.

Dann haben wir die Umweltsituation und die soziale Struktur untersucht, mit Experten aus verschiedenen Fachbereichen qualitative Interviews geführt. Wir haben auch die Bewohner aus den Stadtteilen befragt: Das ist bei diesem Projekt ein ganz wichtiger Ansatz: Wir möchten partizipativ vorgehen. Diese Bedarfs­analyse ist sehr aufwendig gewesen.

Welche Probleme haben Sie bislang identifiziert?

Sie liegen einerseits hauptsächlich im Bereich Verkehr, Mobilität, Grünflächen, also bei den strukturellen Rahmenbedingungen. Und dann auf der anderen Seite in der sozialen Situation. Wir arbeiten dort mit anderen Akteuren in sogenannten Präventionsnetzwerken zusammen.

In welche Richtung geht der Präventionsansatz? Man kann einen verkehrsreichen Stadtteil mit wenig Grün nicht von heute auf morgen ­verändern …

Wir versuchen eine Doppelstrategie, und das halte ich auch für sehr sinnvoll. Wir versuchen, die Erkenntnisse aus der Analyse in die gesamtstädtischen Gremien zu transportieren, indem wir uns zum Beispiel mit der Stadtentwicklungsplanung zusammensetzen und mit der Verkehrsplanung. Es gibt in Nürnberg auch eine Nachhaltigkeitskonferenz, wir bringen diese Aspekte auch dort ein. Das ist eine Ebene, wo manche Probleme gelöst werden können. Zum Beispiel sind in Nürnbergs Radwege oder Bewegungsflächen sicherlich noch optimierungsfähig. Wir versuchen, als Anwalt der Menschen in den Stadtteilen deutlich zu machen, was sich auf der kommunalen gesamtpolitischen Seite verändern müsste.

Auf der anderen Seite gibt es auch Angebote vor Ort: Wir sind dabei, in den Stadtteilen offene Bewegungstreffs zu etablieren. In einem Park gibt es ein Bewegungsangebot. Das machen wir möglichst niedrigschwellig: Leute zu motivieren für den Sportverein oder einen Trimm-Dich-Pfad, das ist eine viel zu hohe Hürde für Menschen in sozial schwierigen Lebenslagen. Daher bieten wir offene Angebote zu unterschiedlichen Tageszeiten.

Der Erfolg ist unterschiedlich: Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Aber wenn es gelingt, dann entsteht auch ein kleines Netzwerk, Kontakte, die zu einer gegenseitigen Unterstützung führen. Das ist zum Beispiel ein sehr unterschätzter Punkt bei der Frage der Lebenserwartung: Man konzentriert sich nur auf die medizinischen Risikofaktoren. Aber die soziale Unterstützung, Solidarität, das ist ein ganz wichtiger lebenserhaltender Faktor.

Ein weiteres Beispiel: Wir haben vor Jahren das orthopädische Sonderturnen vom Sportamt ins Gesundheitsamt geholt und unter dem Titel „RÜBE – Rücken- und Bewegungsturnen“ konzeptionell so umgebaut, dass es für die Kinder attraktiv ist. Es findet in Kindergärten und Schulen statt. Das hat einen gesundheitlichen Effekt, die Kinder machen es gern, und wir konzentrieren uns dabei auf Kinder benachteiligter Stadtteile. Die Gebühren werden sehr niedrig angesetzt oder ganz erlassen. Dies wäre ausbaufähig. Außerdem versuchen wir, auf die Schwimmbäder hinzuwirken, mehr Zeiten für Schwimm­unterricht für Kinder anzubieten, leider noch nicht mit durchschlagendem Erfolg.

Stichwort Lebenserwartung: Ein besserer sozialer Status bedeutet statistisch auch eine längere Lebenserwartung. Ist das in Stein gemeißelt?

Nach Analyse der Statistiken hat das  oberste Fünftel der Gesellschaft eine um circa zehn Jahre höhere Lebenserwartung. Aber es geht nicht nur um die Höhe der Lebenserwartung. Bei der in guter Gesundheit verbrachten Zeit ist der Unterschied noch viel größer, er liegt bei bis zu 15 Jahren.

Müsste dieses Thema nicht eine viel höhere politische Relevanz haben?

Aus meiner Sicht ist das der größte gesellschaftspolitische Skandal, der aber leider unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Seit mehr als 20 Jahren gibt es den Kongress Armut und Gesundheit in Berlin, wo sich die Experten austauschen, aber erstaunlicherweise findet das Thema so schwer in die Öffentlichkeit. Es gibt wahrscheinlich keinen größeren gesellschaftlich bedingten Nachteil, als eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung. Erstaunlich, dass das in der politischen Diskussion auf Bundesebene eine so geringe Rolle spielt.

Oft fehlt es an der Bildung, wenn es um Ernährung geht: Wäre zum Beispiel eine bessere Auszeichnung der Lebensmittel nicht ein sinnvoll?

Das wäre auf jeden Fall sinnvoll, damit die Leute, die sich für eine gesündere Ernährung entscheiden wollen, es auch leichter haben. Da wäre ich auf jeden Fall für die Einführung einer Lebensmittelampel, die den Zucker-, Fett- und Salzgehalt zeigt. Das wird von der Industrie ziemlich blockiert. Man muss sich zwar davor hüten, einen Populismus zu bedienen. Aber wenn sich Frau Klöckner mit Nestlé-Vertretern fotografieren lässt, fragt man sich natürlich, wie da eine konsequente Haltung in puncto ­Zuckersteuer oder Lebensmittelampel zu erwarten ist, da Nestlé sich vehement dagegenstellt.

Ein anderer Punkt ist die Diskussion um den Abgasskandal in Deutschland. Man geht von rund 6.000 vorzeitigen stickoxidbedingten Todesfällen durch Herz-Kreislauferkrankungen aus. Hauptursache sind Dieselabgase aus dem Straßenverkehr. Man fragt sich: Warum wird das von der verantwortlichen politischen Ebene geduldet? Warum sind die ökonomischen Interessen der Autoindustrie so stark, dass nur ganz zögerlich auf so etwas reagiert wird?

Ein weiterer Skandal ist, dass Deutschland das einzige EU-Land ist, wo es eine Tabak-Außenwerbung gibt. Obwohl eine Abschaffung quer durch die Parteien diskutiert wird, wird ein entsprechendes Gesetz immer wieder torpediert. Da macht sich die Politik nicht glaubwürdig, wenn sie derartige Sachen durchgehen lässt.

Autor*in
Karin Billanitsch

ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.

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