Warum die Landflucht im Osten weitergeht und welche Städte zulegen

Nach einer neuen Studie scheint die Abwanderung aus dem Osten gestoppt. Doch nur die großen Städte wie Berlin, Leipzig, Dresden, Jena und Potsdam legen zu, wohingegen die Bevölkerung großer Teile des ländlichen Raums weiter schwindet.
von Harald Lachmann · 23. März 2016
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Es scheint fast nicht mehr vorstellbar, dass den Osten der Republik bis 1989 eine deutlich dynamischere Demografie auszeichnete und die Bevölkerung im Schnitt zwei Jahre jünger war als die der alten Bundesrepublik. Denn zu sehr prägten im vergangenen Vierteljahrhundert Abwanderung, Geburtenknick und Vergreisung das Bild. Rund 1,8 Millionen Einwohner verlor der Osten ab 1990 an den Westen. Doch in dem Maße, wie sich hier die Wirtschaft wieder belebt, erholt sich auch die Bevölkerungsstruktur. Laut einer aktuellen Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung „Im Osten auf Wanderschaft“ zogen seit 2012 sogar mehr Menschen aus dem Westen und dem Ausland in die neuen Länder als diese seither verloren.

Der Osten saniert den Osten

Die Abwanderung scheint gestoppt. Schaut man aber genauer hin, fokussiert sich diese Wende – neben dem Großraum Berlin – auf fünf große Städte: Leipzig, Dresden, Jena, Potsdam und Erfurt. Sie sind wichtige Universitätsstandorte und zum Teil auch Landeshauptstädte, die eine neue Zugkraft speziell für jüngere, qualifizierte und kreative Menschen entwickelt haben. Hier sieht man wieder herausgeputzte Fassaden, es locken gut ausgestattete Hochschulen, eine vielfältige Kulturszene und vergleichsweise günstige Lebenshaltungskosten.

Leipzig ist dafür das spektakulärste Beispiel: Die Bevölkerungszahl, die in den 1990er Jahren trotz Eingemeindungen unter die Halbmillionengrenze fiel, wächst rapide. Allein im Jahr 2015 zogen gut 16.000 Menschen mehr zu, als die sächsische Metropole verließen. Mit knapp 570.000 Bürgern zählt Leipzig wieder zu den Top 10 im Land, ließ Nürnberg, Hannover und Bremen hinter sich. Im vergangenen Jahr enterte Leipzig mit 120 Geburten je 10.000 Einwohner sogar erstmals den Thron als fruchtbarste ­Großstadt Deutschlands – übrigens vor Dresden (114).

Von den Zuzüglern stammen rund zwei Fünftel aus dem Altbundesgebiet oder dem Ausland – doch 60 Prozent wandern lediglich aus anderen ostdeutschen Regionen zu. Weniger euphorisch betrachtet, saniert hier also der Osten den Osten. Inzwischen leben in diesen neuen blühenden Oasen nahezu 40 Prozent aller Ostdeutschen. Wissenschaftler empfehlen den Landes- und Landkreisverwaltungen denn auch, diesen Trend aktiv zu unterstützen. „Man muss sich auf die Städte konzentrieren, gerade in Ostdeutschland“, rät etwa Professor Reint E. Gropp, der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle/Saale (IWH). „Sie müssen attraktiver werden für die Zielgruppe der gut ausgebildeten, möglichst kinderreichen jungen Familien.“

Im Gegenzug veröden jedoch in fast demselben Maße, wie jene „Schwarmstädte“ zulegen, große Teile des ländlichen Raums. So ist das eben bei Leuchttürmen: Sie strahlen zwar weit in die Ferne, doch um sie herum sieht es eher finster aus. Ein besonders trauriges Schattendasein führt etwa die einst stolze Residenz- und Industriestadt Zeitz in Sachsen-Anhalt. Nur 40 Autominuten südlich von Leipzig gelegen, schrumpfte sie ab 1990 von gut 43.000 auf bereits unter 30.000 Einwohner. Für 2030 sind sogar weniger als 20.000 Menschen prognostiziert. Selbst einen Steinwurf vom zentralen Altmarkt entfernt zeugen blinde Schaufenster, vernagelte Haustüren und bröckelnder Putz von Hoffnungslosigkeit. So werden bereits jährlich 400 Wohnungen zurückgebaut. Und da vor allem 19- bis 44-Jährige gehen, stehe in einigen Jahren „die Alterspyramide in Zeitz nahezu auf dem Kopf“, mahnt ein städtischer Demografiebericht.

Sogar Hochschulstandorte sind skeptisch

Auch andere frühere Kreissitze im Dunstkreis von Leipzig, etwa Eisleben, Weißenfels, Bitterfeld und Altenburg, verlieren laut Studien bis zum Jahr 2030 noch ein Viertel ihrer Einwohner. Selbst Hochschulstädte wie Jena, Köthen, Ilmenau oder Schmalkalden blicken eher skeptisch nach vorn. Sie locken zwar Studierende an, doch es bleibe eine „Heimat auf Zeit“, so der Wirtschafts- und Sozialgeograph Dr. Manuel Slupina, So sieht denn auch Iris Gleicke (SPD), die Ostbeauftragte der Bundesregierung, noch keine wirkliche Trendwende. „Dafür sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land zu groß“, sagt sie – und plädiert dringend für ­eine weitere Förderung strukturschwacher Gebiete auch nach Auslaufen des Solidarpakts Ost im Jahr 2019. Schützenhilfe bekommt sie dabei vom Statistischen Bundesamt, wo man erwartet, dass der Osten im nächsten Jahrzehnt vor allem wegen seiner Überalterung um weitere 1,5 Millionen Einwohner schrumpft. Dennoch räumt die Thüringerin ein: „Der Aufbau Ost hat etwas bewirkt.“

Mithin heißt es für jene ostdeutsche Kommunen, die unterhalb der Leuchttürme darben, kreativ zu sein – und nicht nur, um für junge Leute interessant zu werden. Denn die Bevölkerungsforscher haben inzwischen weitere Zielgruppen lokalisiert, um die gerade für mittlere Städte das Werben lohnt: etwa die sogenannten Empty-Nest-Wanderer. Darunter versteht man die 50- bis 64-Jährigen, deren Nachwuchs inzwischen ausgeflogen ist. Sie verändern ihren Wohnort eher selten – aber wenn, wählen sie überschaubare Kommunen jenseits des Metropolentrubels, die mit einem guten Versorgungsangebot aufwarten. Sie werden inzwischen aus den Rathäusern und von Immobilienagenten ebenso umworben wie die „Ruhestands-Wanderer“: Das sind Zeitgenossen ab 64 Jahren, die es auch verstärkt in mittlere Städte ohne Hektik, aber mit einer guten Infrastruktur zieht. Hierzu gehören etwa Weimar, Greifswald, Görlitz, Havelberg, Zittau oder auch Thüringer Kurstädtchen wie Bad Berka und Bad Liebenstein.

Es reicht also nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren von Wissenschaftlern empfohlen, verlorene Stadtkinder lediglich mit „Heimwehschachteln“ voller Ostprodukte, Kühlschrankaufklebern oder einem Zeitungsabo zurücklocken. Stattdessen sind Jobperspektiven, gute Infrastruktur mit Ärzten, Geschäften, Gastronomie, Kultur und ÖPNV attraktiv. Hier die richtigen Akzente zu setzen, raten die Autoren der Berliner Studie übrigens auch den Machern mittelgroßer Städte. Ihnen käme künftig sogar eine noch bedeutendere Rolle in verödenden Regionen zu – eben „indem sie wichtige Angebote vorhalten“, so Slupina.

Kleine Dörfer sind die Verlierer

Zu den wirklichen Verlierern rechnen die Experten dagegen kleinere Dörfer unter 500 Einwohnern, sofern diese nicht sehr dicht an einen der Leuchttürme grenzen und möglichst S-Bahnanschluss plus preisgünstigen Baugrund für junge Fami­lien bieten. Doch auch hier gibt es schillernde Ausnahmen. Zum Beispiel Bösleben-Wüllersleben – ein halbe Stunde südlich von Erfurt gelegen – oder Hinrichshagen bei Greifswald. Spiel- und Sportplätze, Kitas, Jugendklubs und Bürgerhäuser, in denen ein vielfältiges Vereinsleben brodelt, gelten dabei als Patentrezepte. Gerade die Vereinsdichte sei ein „Indikator für Stabilität und ein Zeichen dafür, dass sich die Einwohner wohlfühlen“, fanden die Berliner Forscher heraus.

 

Mehr Informationen:
www.berlin-institut.org

Autor*in
Harald Lachmann

  ist diplomierter Journalist, arbeitete zunächst als Redakteur bei der Leipziger Volkszeitung, zuletzt als Ressortleiter Politik, und schreibt heute als freier Autor und Korrespondent für Tages-, Fach- sowie Wirtschaftszeitungen. Für die DEMO ist er seit 1994 tätig.
 
 

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