Warum jetzt in ganz Paris Tempo 30 gilt

Bürgermeisterin Anne Hidalgo erfüllt ein zentrales Wahlversprechen: Paris wird verkehrsberuhigt. Ab dem 30. August gilt nahezu in der gesamten Stadt Tempo 30. Das könnte den Verkehr sogar beschleunigen.
von Kay Walter · 7. September 2021
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Manchem klingt das Tempolimit, das die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo der französischen Hauptstadt verordnet hat, fast nach Revolution: flächendeckend Tempo 30! Ausnahmen sind nur wenige sechsspurige Magistralen, wie die Champs-Elysées und die Avenue Foch mit erlaubten 50km/h, sowie der Autobahnstadtring Périphérique mit 70. Allein, so neu und einzigartig ist das Konzept nicht. In Madrid (2018) und Brüssel (2021) gibt es bereits vergleichbare Regeln; in Frankreich unter anderem in Toulouse, Nantes oder Grenoble.

Und auch in Paris selbst gilt bereits jetzt auf über der Hälfte aller Straßen eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Mehr noch: Hidalgo hatte vor ihrer überlegenen Wiederwahl versprochen, aus Gründen der Verkehrssicherheit und des Klimaschutzes das Tempolimit auf ganz Paris auszuweiten. Auch wenn die Autolobbyist*innen jetzt zetern und protestieren, sie ist dafür gewählt worden. Warum also die Aufregung?

Verkehrskollaps als Normalzustand

Paris ist in jeder Hinsicht besonders. Keine Stadt weltweit zieht mehr Touristen an. Und circa 35 Millionen Besucher jährlich sorgen auch dafür, dass auf den Verkehrskonzepten der Seinemetropole besonderes Augenmerk liegt. Vor allem aber gehört Paris schon ohne Zugereiste zu den dichtest bevölkerten Städten der Welt. Auf dem Quadratkilometer leben hier fünfmal mehr Einwohner*innen als in Berlin und entsprechendes gilt für den Straßenverkehr. Wer noch nie an einem beliebigen Tag mit dem Auto versucht hat, Paris von Ost nach West oder Nord nach Süd zu durchqueren, der hat wenig Vorstellung davon, was das Wort Stau bedeutet. Verkehrskollaps ist der Normalzustand. Die Straßen sind verstopft, alle und immer. Zudem gibt es kaum legale Parkmöglichkeiten.

Das war mal anders. 1961 wurden auf beiden Seine-Ufern tiefer gelegte, jeweils zweispurige Schnellstraßen als beispielgebend für moderne Stadtplanung eingeweiht. Der letzte Schrei. 4000 Fahrzeuge pro Stunde konnten die Quasi-Stadtautobahn als Beschleunigungsstreifen nutzen. Das Ideal der „autogerechten Stadt“ stammte zwar ursprünglich aus Deutschland, aber kaum irgendwo wurde es konsequenter umgesetzt als auf den großen Pariser Ausfallstraßen. Nur nahm die Zahl der Fahrzeuge derartig zu, dass auch das nicht mehr ansatzweise reichte und die Seine-Uferstraßen bestenfalls tief in der Nacht noch ein höheres Tempo gestatteten.

Durchschnittsgeschwindigkeit unter 14 km/h

Seit tagsüber das Vorwärtskommen im PKW nahezu ausgeschlossen ist, sattelten die Pariser*nnen auf Motorräder aller Art um, die mit Höchstgeschwindigkeit mitten zwischen den stehenden Autokolonnen durchrasen. Folge: noch mehr Stress, Lärm und Umweltverschmutzung, noch mehr Unfälle. Fußgänger*nnen trauten sich oft kaum noch, die Straßen zu queren.

Neben der enormen Hektik haben vor allem die vielen schweren Unfälle ein Umdenken in der Verkehrspolitik erzwungen. Erstaunlicherweise nicht der gewaltige Zeitverlust im Auto. Die Durchschnittsgeschwindigkeit von PKW in Paris liegt unter 14 Stundenkilometern! Selbst Autolobbyist*innen bestreiten nicht, dass dieses Schneckentempo Realität ist. Nicht zuletzt deshalb haben sich die Trottinettes durchgesetzt. Mindestens 80.000 dieser E-Roller heizen durch die Stadt. Kein Wunder: Selbst wer sich an alle Verkehrsregeln hält, ist darauf mindestens doppelt so schnell am Ziel, wie jede*r Autofahrer*in.

Zeit für Veränderung

Hidalgos Amtsvorgänger Bertrand Delanoe ließ im Sommer 2002 erstmals ein Stück Seineufer für den Autoverkehr sperren, erklärte es für sechs Wochen zur Promenade, genannt Paris Plage. Die Aktion fand Anklang, wurde wiederholt. Aber der Erfolg von Paris Plage war so enorm, dass der stillgelegte Bereich jedes Jahr wuchs bis schließlich 2016 Bürgermeisterin Hidalgo die tiefgelegten Schnellstraßen an beiden Uferseiten dauerhaft geschlossen hat. Die Autofahrer*innen, besonders die aus dem reichen Neuilly, tobten. Aber unterdessen sind 60 Prozent der Pariser*innen begeistert, denn die Luft in Paris ist spürbar besser und der Zugewinn an Lebensqualität ist gar nicht zu beziffern.

Die nämliche Aufregung als im Zuge der Ausgangssperren wegen Corona Straßen ganz oder teilweise zu Radwegen umgewidmet wurden: Die berühmte Einkaufsmeile Rue Rivoli, nun auf mehreren Kilometern Radweg mit lediglich einer verbliebenen Spur für Busse und Taxen, galt einigen als Angriff auf die Pariser Lebensart.

Die Argumente waren immer exakt die gleichen: Ein Tempolimit sei ein unzulässiger Eingriff in die Freiheit, Handwerker*innen kämen nicht mehr in die Innenstadt, Handel und Gewerbe gingen ohne Autos bankrott, Pendler*innen wie Käufer*innen blieben weg. Nur: Nichts davon ist eingetreten. Dafür sind in den bestehenden 30er-Zonen Anzahl und Schwere der Unfälle erkennbar rückläufig.

Ziel ist die Verlagerung des Verkehrs

Ganz ohne jeden Zweifel ist Autofahren in Paris ein schwieriges und nervenzehrendes Unterfangen, aber die kommende Geschwindigkeitsbegrenzung ist mitnichten gleichbedeutend damit, den Verkehr auszubremsen. Im Gegenteil. Sie wird bestenfalls zu einer Verlagerung weg vom Privatwagen und hin zu anderen Transportvehikeln führen. Das ist auch Sinn der Übung.

Aber selbst PKW würden davon profitieren. Könnten sie tatsächlich eine Spitzengeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern über einen längeren Zeitraum fahren, würden sie ihr Fahrtempo gegenüber heute real verdoppeln.

Der Artikel ist zuerst auf vorwaerts.de erschienen.

Autor*in
Kay Walter

ist freiberuflicher Journalist in Paris.

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