Perspektiven

Erinnerung als Narrativ: Zeig mir, was ich sehe!

Aus der Geschichte lässt sich lernen, und Kommunen können viel zu einer lebendigen Erinnerungskultur beitragen. Doch nicht jeder Ansatz funktioniert. Erfahrungen aus Erlangen – ein Gastbeitrag.

von Dieter Rossmeissl · 6. August 2024
Grauer Bus

Wander-Denkmal „Graue Busse“

Der Autor Dr. Dieter Rossmeissl war Stadtrat und Referent für Bildung, Kultur und Jugend der Stadt Erlangen. Er war an der Entstehung eines Positionspapiers des Deutschen Städtetages („Erinnern ist Zukunft. Demokratie stärken mit Erinnerungskultur”) beteiligt.

Historia non docet. Die Geschichte lehrt uns nichts. Für manche mag die Gegenthese zu Ciceros Optimismus, Geschichte sei die Lehrmeisterin des Lebens  resigniert klingen, als seien alle Lehren aus der Geschichte vergeblich. Aber das ist ein Missverständnis. Der Satz konstatiert lediglich die Erfahrung, dass Geschichte nicht aus sich selbst heraus Rezepte für ein (besseres) Leben produziert, sondern immer der Vermittlung und damit der Interpretation bedarf. Geschichte lehrt nicht, aber man kann aus ihr lernen.

Das zeigt sich gerade dort, wo Geschichts-Relikte unübersehbar sind und eben dadurch zur Konfrontation auffordern oder wo Erinnerungsorte bewusst geschaffen wurden, um eine Botschaft zu transportieren. Beispiele aus der Stadt Erlangen zeigen, warum diese Erwartung ohne pädagogische Begleitung nicht funktioniert. Sie zeigen aber auch, wie Geschichte, die nichts aus sich selbst lehrt, zum pädagogischen Lernort gemacht werden kann.

Debatte um alte „Irrenanstalt”

Eine lange Diskussion mit relativ breiter Öffentlichkeit begleitet in Erlangen seit einigen Jahren den Umgang mit den Resten der früheren „Irrenanstalt“ bzw. „Heil- und Pflegeanstalt“ (HuPflA). Diese war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als erste überregionale Klinik für Geisteskranke in direkter Nachbarschaft zum städtischen Wohngebiet errichtet worden, sichtbar also für die Bevölkerung. Hier waren vor Beginn des Zweiten Weltkriegs über 1.000 Kranke untergebracht. Ab Kriegsbeginn fanden von hier aus Transporte zu Orten statt, in denen psychisch Kranke ermordet wurden. Aus der Erlanger Anstalt wurden zwischen 1939 und 1941 über 900 Menschen im Rahmen des T4-Programms umgebracht. 1942 kam zudem vom Bayerischen Innenministerium die Anordnung, dass „diejenigen Insassen, die nutzbringende Arbeit leisten oder in therapeutischer Behandlung stehen … zu Lasten der übrigen Patienten besser verpflegt werden“ müssen.  Daraufhin wurden bis 1945 eigene Stationen für die faktisch zum Hungertod verurteilten „B-Kost“-Patienten eingerichtet. Geschätzt 1.000 Insassen wurden bis 1945 durch die Mangelernährung der Hungerkost getötet. 

Umstritten

Der Rest der „Hungerstation“ der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen, der nach Abriss der Seitenflügel Gedenkstätte werden soll.

Hungerstation

Die Anstalts-Gebäude wurden nach dem Krieg weitgehend abgerissen und durch moderne Klinik-Gebäude ersetzt. Erhalten blieben die frühere Direktoren-Villa, in der jetzt die Direktion der Universitäts-Radiologie residiert, das Verwaltungsgebäude am Eingang (heute Sitz der Kaufmännischen Klinik-Direktion) und der nördlichste Trakt des früher weit verzweigten Anstalts-Areals mit einem Männer- und einem Frauen-Flügel und einem „Beamtenbau“ in der Mitte. Hier waren bis 1945 die „Hungerstationen“ untergebracht. 

Genau auf dieser Fläche plante die Max-Planck-Gesellschaft 2018 in Kooperation mit der Universität den Bau eines Zentrums für Physik und Medizin, welcher der verbliebene Anstalts-Trakt ganz oder weitgehend weichen sollte. Damit traten die Stadt, die sich hinter das Bauprojekt stellte, und die Universität jedoch eine breite öffentliche Diskussion los. Dem Aufruf zum Protest gegen den Abriss schlossen sich mehrere tausend Bürgerinnen und Bürger durch Unterschrift an. Ziel war es, stattdessen in dem Gebäude einen Gedenkort an die Opfer der Krankenmorde einzurichten. Er sollte das Erinnern an die Oper der „Euthanasie“-Verbrechen „sinnlich fassbar machen“, darüber aufklären und zugleich eine „Stätte der Begegnung“ mit Veranstaltungen und Ausstellungen sein. 

Debatte wurde entfacht

Planungen und Proteste führten zu drei recht unterschiedlichen Ergebnissen: Zum einen hielten Stadt, Staatsregierung und Universität an ihren Bedarfsaussagen fest, und auch der Denkmalschutz stellte sich einem (Teil-)Abriss nicht in den Weg. Der Bau steht derzeit kurz vor seiner Vollendung. Zum zweiten wurden die Pläne aber so geändert, dass der Mittelteil – der Risalit des Beamtenbaus mit jeweils einem Stück der Hungerflügel rechts und links – erhalten blieb und zu einem Gedenkort gestaltet werden soll. Ein Konzept dafür liegt vor. Zum dritten aber – und das dürfte der interessanteste Aspekt sein – hat der Streit zu einer anhaltenden öffentlichen Diskussion und einer Vielzahl von Veranstaltungen geführt, zu denen Vereine, Institutionen, Stadtverwaltung und Universität einluden, teils gemeinsam, aber auch mit kontrovers gestalteten Foren.

Kaum ein städtebauliches Thema hat zwischen 2018 und 2024 so breites Interesse in der Stadt gefunden wie der Umgang mit der HuPflA. Dabei ging es nicht nur um den schlichten Gegensatz von Erhalten oder Abreißen; vielmehr brachte die Diskussion unter Beteiligung des Geschichtsvereins, des Stadtmuseums, der Volkshochschule und weiterer Akteure differenzierte Kompromiss- und Alternativ-Vorschläge hervor, die sich auf Gebäude wie Denkstätten-Konzept bezogen. Die Diskussion war mit breiter Wahrnehmung und hoher Beteiligung in der Stadt angekommen.

Graue Busse – verschenktes Erinnerungspotenzial

Das genaue Gegenteil zeigt sich seit Frühjahr 2024 bei einem Gedenkort, der sich auf dasselbe Thema bezieht. Als Erinnerung an die Opfer und Täter der T4-Aktion wurde 2006 in Ravensburg ein Denkmal geschaffen, das auf die grauen Mercedes-Busse verweist, mit denen ab 1940 körperlich, geistig oder seelisch Kranke zur Ermordung abtransportiert wurden. Das Denkmal ist ein längs geteilter grauer „Bus“ aus Beton, dessen fehlender Mittelteil Raum bieten soll für das Nachdenken über die Menschen, die mit solchen Bussen zu Tode gebracht wurden. Ein zweiter gleichartiger „Bus“ wurde seither an mehreren Standorten in Deutschland temporär aufgestellt. Seit 6. Februar 2024 steht er am Hugenottenplatz im Zentrum Erlangens und soll dort bis Jahresende bleiben. Der Platz am wichtigen Knotenpunkt vieler Buslinien und direkt vor der ältesten Kirche der Stadt könnte ideal sein.

So prominent das Denkmal platziert ist, so wenig wird es freilich wahrgenommen. Der freie, wenig einsehbare Durchgang in der Mitte diente wohl auch schon gelegentlich als „Bedürfnisort“ für Kirchweih-Besucher. 

Grund für diese Gering-Achtung ist nicht, dass solche Busse in Erlangen gar nicht zum Einsatz kamen, sondern vielmehr, dass nur Wenige etwas damit anfangen können. Über die Aufstellung wurde zwar in der Lokalzeitung berichtet und auch ihre Symbolik erläutert, weitere Vermittlungen blieben jedoch aus. Die klagende Frage im Bus-Gang „Wohin bringt ihr uns?“ erfährt keine Antwort aus sich selbst, und eine kleine Tafel trägt auch nicht zur Erhellung bei. Zudem fehlt auch jede Integration in das Programm geeigneter Vermittlungs- Institutionen wie Museum, Volkshochschule oder Theater. So fungiert der Beton-Bus nur als leicht tolerierbare Sperrung einer Fahrspur auf dem Bus-Parkplatz; das Erinnerungspotential wird ohne historisch-pädagogisches Programm verschenkt.

Es geht auch anders

Dass es zur Vermittlung nicht immer großer Aktionen bedarf, zeigte die (allerdings nur sehr kurz) ebenfalls im Fußgängerbereich des Stadtzentrums platzierte Box der Arolsen Archives über „Stolen Memory“, in der Hinterlassenschaften von Häftlingen vorwiegend aus dem KZ Neuengamme gezeigt werden. Die knappen, aber instruktiven Erläuterungen direkt am Ort der Ausstellung zeigen wirkungsvoll, welche menschlichen Schicksale hinter den Zahlen der Ermordeten stehen. Dennoch wäre auch hier ein erweitertes pädagogisches Angebot sinnvoll gewesen.

Wo die Sichtbarmachung von offizieller Seite ganz oder weitgehend fehlt, wird sie gelegentlich aus der Gesellschaft heraus eingefordert. Dabei können Platz- und Straßennamen dann eine Rolle spielen, wenn sie nicht als einfach vorhanden hingenommen, sondern Gegenstand von Auseinandersetzung werden. Dabei wird die Wirkung einer Ehrung durch Straßenbenennung und beschilderter Mini-Erläuterung in den meisten Fällen wohl deutlich überschätzt.

Wer war Lorleberg?

In Erlangen gibt es einen großen Platz – universitätsnah und mit Bushaltestelle betont –, die dem Gedenken an Werner Lorleberg gewidmet ist. Dieser Oberstleutnant war 1945 Stadtkommandant und ließ sich nach zunächst heftigem Weigern überreden, entgegen einem „Führerbefehl“ die Stadt am 16. April 1945 kampflos den US-Truppen zu übergeben, was sie vor der Zerstörung bewahrte. Unter ungeklärten Umständen kam er unmittelbar danach (wahrscheinlich durch Selbstmord) ums Leben. Am Platz mit seinem Namen findet sich eine Tafel mit dem neutralen Hinweis, er habe für seine Tat sterben müssen.

Mit Studierenden eines Master-Seminars zur Erinnerungskultur an der Universität haben wir im letzten Wintersemester Passanten des Lorleberg-Platzes nach ihrer Kenntnis über den Namensgeber befragt. Zwar wussten fast alle Befragten, wie der Platz heißt, doch trotz der deutlich sichtbaren Erläuterungstafel hatte kaum einer eine Ahnung, wer dieser Lorleberg denn nun gewesen sei. Die Zwiespältigkeit einer mutigen weil befehlswidrigen Stadtrettung durch Kapitulation durch einen Offizier, der fast bis zuletzt seinem Eid für Hitler treu bleiben wollte, konnte so keine reflexive, bewusstseinsprägende Wirkung entfalten.

Vorschlag für neuen Namen

Aktuell hat sich auch der Bürgerschaft nun eine Initiative gebildet, den Platz samt der angrenzenden Bismarckstraße in „Frida-Poeschke-Platz“ und „Shlomo-Lewin-Straße“ umzubenennen. Der Rabbiner und Antifaschist Lewin wurde zusammen mit seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke am 19. Dezember 1980 von einem Neo-Nazi aus der rechtsradikalen „Wehrsportgruppe Hoffmann“ ermordet. Die Polizei schob mit Unterstützung durch die Presse die Schuld jedoch lange Zeit den Opfern selbst in die Schuhe mit der haltlosen Begründung, Lewin sei Mossad-Agent und Opfer eines geheimdienstlichen Fememords geworden. 

Lewin statt Bismarck?

Plakat an einem Haus in der Bismarck-Straße mit der Forderung einer Umbenennung in Shlomo-Lewin-Straße

Transparent

Erst 2010 wurde eine Grünanlage in der Nähe des Tatorts als „Lewin-Poeschke-Anlage“ gewidmet. Das Verhalten von Polizei und Presse, das der Journalist Ulrich Chaussy als „posthumen Rufmord“ bezeichnete, spielte dabei keine Rolle. Jetzt liegt mit Unterstützung aus der Bürgerschaft und durch etliche Universitätsprofessoren die Forderung beim Stadtrat, die Platzbenennung nach den ambivalenten Personen Lorleberg und Bismarck durch eine sichtbare Ehrung für die ermordeten Neo-Nazi-Opfer und damit durch ein „antifaschistisches Gedenken“ zu ersetzen. Die Diskussion darüber war beim Straßenfest der „Bismarckstraße“ unübersehbar.

Empfehlungen des Städtetages

Die Beispiele zeigen, dass Gedenkorte, seien es Gebäude, Denkmäler oder Straßen, keine Erinnerungsqualität aus sich heraus haben. Wirkung erzielen sie erst, wenn sie mit Narrativen verbunden werden, die Vergangenes in der Gegenwart sichtbar und ihre anhaltende Bedeutung erlebbar machen. Der Deutsche Städtetag hat zu Recht „Erinnerungskultur als Bestandteil kultureller Bildung“ beschrieben  und deutlich gemacht, welche Bedeutung Geschichtsvereine, zivilgesellschaftliche Initiativen, Schulen und andere Bildungseinrichtungen dabei haben.

Für Straßen- und Platzbenennungen empfiehlt das Positionspapier, die Stadt solle „die Zivilgesellschaft sowie Anwohnerinnen und Anwohner einbeziehen“ und „diskursive, künstlerische oder andere innovative Formate zur Auseinandersetzung mit Erinnerung im öffentlichen Raum in Betracht ziehen, um ihr … Potential als Orte historischer Bewusstseinsbildung aufrechtzuerhalten“. Deshalb sollten auch problematische Benennungen nicht einfach getilgt und damit weiterer Diskussion entzogen werden, sondern ihr demokratisches Potential pädagogisch genutzt werden: „Erläuterung geht vor Entfernung“. 

Erinnerung wird anschaulich, wenn sie sich an Orten festmachen kann und so sichtbar wird. Sie wird aber erst wirksam, wenn sie Aktuelles aufgreift und eine „narrative Brücke der Betroffenheit“ erhält. „Historia non docet.“ Aber wenn es gelingt, ihre Relikte in partizipativen Aktionen, in Geschichten und Performationen, in kontroversen Diskursen und pädagogischen Formaten zu vermitteln, können ihre Kräfte wirksam werden für kulturelle wie politische Bildung und damit für demokratisches Bewusstsein am Lebens- und Lern-Ort Stadt.

 

Literatur:

  • Deutscher Städtetag (2023): Erinnern ist Zukunft. Demokratie stärken mit Erinnerungskultur, Berlin/Köln
  • Engelhardt, Thomas / Frewer, Andreas (Hg) (2023): NS-„Euthanasie“ in Erlangen. Tatorte – Hungerkost – Opfer, Neustadt a.d. Aisch, Verlag C.W. Schmidt (Darin: Thomas Engelhardt: Die Krankenabteilungen der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt 1900 – 1945, S. 53 – 97 / Werner Lutz: Gedenken gestalten – HuPfla erhalten. Die Aufarbeitung von NS-Verbrechen braucht eine angemessene Gedenkkultur, S. 325 – 343)
Autor*in
Dieter Rossmeissl

Stadtrat a.D., Referent für Bildung, Kultur und Jugend Stadt Erlangen a.D.

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