Perspektiven

Gute Kommunalpolitik beginnt im Europäischen Parlament

Viele EU-Vorgaben werden später auf kommunaler Ebene umgesetzt. Deshalb ist es wichtig, dass sich Kommunalpolitiker und Parteibasis für ihre Europa-Kandidat*innen engagieren. Ein Essay von Uwe Roth, Journalist und Autor eines EU-Handbuchs.
von Uwe Roth · 15. Mai 2024
Was in deutschen Kommunen passiert, ist oft direkt von EU-Vorgaben und -Förderprogrammen beeinflusst.

EU-Themen in den Kommunal-Wahlkampf einzubauen, ist ein mühsames Unterfangen. In Ludwigsburg richtete die Stadtverwaltung in der belebten Passage eines großen Einkaufszentrums in Citylage rechtzeitig vor der Europawahl am 9. Juni ein „Europa-Wohnzimmer“ ein. Der Oberbürgermeister Matthias Knecht (parteilos) verlegte dorthin seine Bürgersprechstunde. Seine Botschaft an die Passant*innen lautete: Meine Arbeit im Rathaus hat nicht nur mit Kommunalpolitik zu tun, sondern auch mit der Europäischen Union (EU).

Doch wenige wollten ihren Einkaufsbummeln unterbrechen und sein Plädoyer hören, wie bedeutend die Wahl zum Europäischen Parlament für die Stadt ist. Der OB stellte anschließend leicht frustriert fest: „Wir hatten nicht die Erwartung, dass 30 Leute bei diesem Thema Schlange stehen.“ Aber mit so wenig Resonanz hat er nun nicht gerechnet. Keine zehn Menschen nahmen im Verlauf der Bürgersprechstunde im Europa-Wohnzimmer Platz. Ein typischer Gesprächsverlauf: „Haben Sie Interesse an Europa?“ fragte Knecht ein junges Paar mit Baby. „Eher nicht“, kam knapp zurück. Länger war die Ansprache einer älteren Nachbarin des Einkaufszentrums, die sich lautstark über den allabendlichen Lärm Jugendlicher beschwerte. Die dortigen Stufen sind ein beliebter Treffpunkt. Statt über die EU zu reden, musste er sich Nachbarschaftsklagen anhören.

Kommunale Umweltpolitik kann ohne EU nicht gedacht werden

Die Zeitungen sind drei Wochen vor der Europawahl voll mit Beiträgen, die lehrbuchartig erklären, wie die Europäische Union tickt. Es sind Last-minute-Motivationstexte, gedacht für Nicht- und Protestwähler*innen. Deren Wahlverhalten haben schon 2019 zu viele ultrarechte Abgeordnete aus allen Mitgliedstaaten ins Europäische Parlament befördert. Es dürfen auf keinen Fall mehr werden. Auf der Haben-Seite für gute Europapolitik werden die Abschaffung der Roaming-Gebühren genannt, die Reisefreiheit, Studienstipendien, und – nicht zu vergessen – der einheitliche Standard bei Ladegeräten. Das wissen inzwischen die meisten Unionsbürger*innen.

Weitaus weniger bekannt ist, dass zum Beispiel die Umweltpolitik auf kommunaler Ebene von der Europäischen Union maßgeblich bestimmt wird. Ich habe Anfang der 1990er Jahre das „Handbuch zu europäischen Themen für Kommunalpolitiker und lokale Medien” geschrieben (damals wurde nicht gegendert). Es erschien im Verlauf des Jahrzehnts in drei Auflagen. Da kamen Stichworte vor wie Abfallwirtschaft, Abwässer, Trinkwasser, Gewässerschutz, Luft- und Bodenqualität, Lärmschutz, öffentliches Auftragswesen oder auch das Veterinärrecht. Ich habe EU-Themen damals so erklärt, dass der Bezug zur kommunalen Selbstverwaltung ersichtlich wurde.

Kommunalpolitisches Desinteresse seit über 30 Jahren

Gäbe es eine Neuauflage des Handbuchs, könnte ich das Vorwort von vor über 30 Jahren beinahe wortgleich übernehmen. Meine Publikation verstaubt in Wissenschaftsbibliotheken, aber sie hat das Interesse der Kommunal-Politiker*innen und lokalen Medien an solchen Themen leider nicht gesteigert. Ich habe mich oft gefragt, warum das öffentliche Desinteresse an Europapolitik dauerhaft so geblieben ist. Der zentrale Grund ist tatsächlich, dass es nie zu EU-Berichterstattung gekommen ist, die die Wertigkeit für den Alltag der Bürger*innen zeitnah wiedergibt.

Bis ein EU-Thema nach seiner Verabschiedung im Europäischen Parlament auf der Tagesordnung einer Gemeinderatssitzung landet, können Jahre vergehen. In der Vorlage tauchen die EU-Begriffe meistens nicht auf. Wenn die Kommunalpolitik die Renaturierung eines Bachlaufs feiert, verschwiegt sie gerne, dass das Projekt auf die Wasserrichtlinie der EU aus dem Jahr 2000 zurückgeht, die dafür auch Geld gegeben hat.

EU-Politik bleibt in den Hinterzimmern

Die Ursache für die schwierige Beziehung zwischen Kommunen und EU ist nicht allein bei den Medien zu suchen. Die deutschen Kommunen sind in Brüssel mit eigenen Lobby-Büros vertreten. Aber auch die brachten wenig EU-Wissen in die lokale Öffentlichkeit. So bleibt die Deutungshoheit, ob eine Vorgabe aus Brüssel für die Kommunen gut oder schlecht ist, eine interne. Das Subsidiaritätsprinzip gibt Kommunen das Recht einzuschreiten, wenn sie der Meinung sind, das Problem besser lösen zu können. Doch oftmals dient der Begriff als Schutzschild, um dahinter eigene (partei-)politische Absichten durchzusetzen. Wird über strengere und damit umstrittene Grenzwerte debattiert, überlässt man die Entscheidung gerne der EU, auch wenn dies im kommunalen Interesse wäre. Sollen sich doch die in Brüssel die Finger verbrennen.

Der Brexit und der Einzug rechter Parteien in die EU-Gesetzgebung machen deutlich, dass die Kommunen endlich offen – und nicht nur vor der Europawahl – zeigen müssen, welche Vorteile sie durch die EU haben. Tatsache ist: Eine gute Kommunalpolitik beginnt im Europäischen Parlament. Für die SPD bedeutet das: Wenn sie vor Ort progressive Politik durchsetzen will, muss sie nicht nur in kommunalen Gremien, sondern auch auf europäischer Ebene gut vertreten sein.

 

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Autor*in
Uwe Roth

ist freier Journalist. Er ist Mitglied im Verein Deutsches Institut für Normung und dort im Redaktionskreis für eine DIN Einfache Sprache. Webseite: leichtgesagt.eu

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