Vielfalt und Weltoffenheit aufs Gleis gesetzt
Harald Lachmann
Was wäre Europa ohne Leipzig?“ Was auf den ersten Blick etwas sehr selbstbewusst klingt, ist es auf den zweiten, gar dritten Blick nicht mehr. Denn nicht nur, dass die legendären Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 den vielleicht entscheidenden Erdrutsch für den Eisernen Vorhang zwischen Ost- und Westeuropa bewirkten – auch das Lied der Europäer entstand hier: Den namensgebenden deutschen Text der EU-Hymne „Ode an die Freude“ verfasste Friedrich Schiller 1786 in Leipzig.
Bahn transportiert symbolträchtige Botschaften
So kreierte denn die Stadt am Vortag des Europatags, dem 9. Mai, ein ungewöhnliches rollendes Demokratie-Gefährt: Die Straßenbahn Nr. 1009 der Leipziger Verkehrsbetriebe startete mit symbolträchtigen Botschaften durch die traditionell weltoffene Messestadt: Was wäre Leipzig ohne den Euro? – so liest man etwa darauf. Oder: Was wäre Leipzig ohne Reisefreiheit … ohne Solidarität … ohne Allerlei?! Oder eben: Was wäre Europa ohne Leipzig?
Ein halbes Jahr soll die kunterbunte Tram über das 312 Kilometer lange Gleisnetz rollen und unter dem urdemokratischen Slogan „Wir sind die Mehrheit“ zum gesellschaftlichen Diskurs und Austausch anregen. Eine wichtige Station auf diesem Weg bilden dabei nicht zufällig die Europawahl sowie die parallelen sächsischen Kommunalwahlen am 9. Juni.
Erfurt zieht nach
Ein wenig schaute man sich dieses Projekt übrigens im eigenen Rathaus ab. Denn bereits 2019 tourte durch Leipzig eine Demokratie-Straßenbahn, um die Menschen der 600.000-Einwohner-Metropole zum Mitmachen und Mitstreiten über ihre eigenen kommunalen Belange zu bewegen. Begleitend dazu fand damals eine Vielzahl an Veranstaltungen und Vorhaben statt, zudem entstanden etwa Informationsflyer und kurze Videoclips rund um Themen der lokalen Demokratie. Und so wie das damalige Mitmachmobil Nachahmer im benachbarten Halle fand, bereitet derzeit auch die thüringische Landeshauptstadt Erfurt – wie Leipzig übrigens SPD-regiert – mit Blick auf besagte Wahlen eine Demokratie-Straßenbahn vor.
„Ich freue mich, dass uns diese Straßenbahn mit einem klaren Bekenntnis zu Europa, zu Vielfalt und Weltoffenheit alle daran erinnert, dass die Europäische Union das Leben vieler Leipzigerinnen und Leipziger vereinfacht und zu mehr Wohlstand beigetragen hat“, sagte Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD), als diese Tram zu ihrer Jungfernfahrt abgeklingelt wurde. Denn eine starke EU, die Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und demokratische Werte verteidigt, sei heute wichtiger denn je.
„Gemeinsam mit zahlreichen europäischen Städten steht Leipzig für diese Werte“, so Jung während dieser ersten Tour im Mai. Maßgeblich unterstützt wird das ungewöhnliche Projekt durch die Deutsche Nationalstiftung, die sich intensiv für die Belebung und Förderung von Demokratie in Deutschland verdient macht. Die 1993 von Altbundeskanzler Helmut Schmidt gegründete Einrichtung will die nationale Identität der Deutschen bewusst machen und die Idee der deutschen Nation als Teil eines vereinten Europas stärken. Ihren Sitz hat sie in Weimar und ihre Geschäftsstelle in Hamburg, womit sie ein weiteres wichtiges Stiftungsanliegen symbolisiert: das Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland.
Das Ziel: den Zusammenhalt stärken
Auch die Geschäftsführerin der Nationalstiftung Agata Klaus war zur ersten Runde durch Leipzig an Bord. Dazu befragt, was sie zu dieser Initiative bewogen hat, sagte sie: „Fake News, Hate Speech, Rechtsextremismus treten vermehrt auf und gefährden den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Im ganzen Land gehen Menschen zur Verteidigung der Demokratie auf die Straße. Hierzu möchten wir einen Beitrag leisten.“ Ziel der Mehrheits-Kampagne, die auch vom Medienhaus Ströer und dem Kommunalunternehmen Leipziger Gruppe unterstützt wird, sei es, „demokratische Institutionen, Organisationen und Menschen der Zivilgesellschaft zusammenzubringen und deren Aktivitäten sichtbar werden zu lassen“, betonte Klaus.
Mithin ist diese Tram, die wiederum mit viel Informationsmaterial ausgestattet wurde, für die nächsten Monate weit mehr als ein Transportmittel, nämlich ein „Begegnungsort, an dem Menschen aller Altersgruppen und Hintergründe zusammenkommen, interagieren und voneinander lernen können“ so Agata Klaus, die sich bis 2023 im Ehrenamt als Distriktvorsitzende der SPD in Eimsbüttel-Nord engagierte. Denn gerade in Zeiten, in denen die Herausforderungen für die demokratischen Institutionen zunehmen, sei es „umso wichtiger, Räume zu schaffen, die den Dialog und das Verständnis fördern“. Nicht zuletzt mache das Leitmotiv der Kampagne „Wir sind die Mehrheit“ genau das deutlich, was laut Umfragen eine klare Mehrheit im Land wolle: weiter in Frieden und Freiheit leben, erinnerte Burkhard Jung.
Harald Lachmann
ist diplomierter Journalist, arbeitete zunächst als Redakteur bei der Leipziger Volkszeitung, zuletzt als Ressortleiter Politik, und schreibt heute als freier Autor und Korrespondent für Tages-, Fach- sowie Wirtschaftszeitungen. Für die DEMO ist er seit 1994 tätig.