Bauen auf ehemaligen Bahnstrecken: Eisenbahngesetz bleibt umstritten
Eine Gesetzesänderung hat es erschwert, ehemaliger Bahnstrecken zu entwidmen. Als Folge stehen viele Bauprojekte auf der Kippe. Die Union im Bundestag fordert eine Rolle rückwärts, doch dagegen regte sich bei einer Anhörung im Verkehrsausschuss Widerspruch.
Florian Gaertner
Überwachsene Gleise: Auch stillgelegte Bahnstrecken können in Zukunft wieder wichtig werden.
Trotz Ampel-Aus arbeitet der Verkehrsausschuss des Bundestags weiter und hat am Montag ein heißes Eisen angefasst: Das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG). Dieses wurde Ende 2023 novelliert, wobei eine kleine Änderung im Paragrafen 23 zu schwerwiegenden Folgen für zahlreiche Stadtentwicklungs-Projekte geführt hat. Aber der Reihe nach.
Die Ampel-Koalition wollte es seinerzeit verhindern, dass einmal stillgelegte Bahnstrecken für alle Zeit für den Eisenbahnverkehr verloren gehen. Deshalb wurde im Gesetz festgeschrieben, dass Eisenbahn-Betriebsanlagen im „überragenden öffentlichen Interesse“ lägen. Solche Grundstücke dürfen nach neuer Rechtslage nur noch dann für andere Nutzungen freigestellt werden, „wenn das Interesse des Antragstellers an der Freistellung das (…) überragende öffentliche Interesse überwiegt“.
Keine Ermessensspielraum mehr?
Das Resultat dieser Formulierung ist, dass das Eisenbahnbundesamt (EBA) die Entwidmung zahlreicher Bahnflächen blockiert. In mehr als 150 Fällen seien Freistellungsanträge zurückgewiesen worden, schreibt die CDU/CSU-Fraktion in einem Antrag für den Bundestag. Darin fordert sie, eine „Regelung für Freistellungsverfahren aufzunehmen, mit der der ‚Bahnbetriebszweck eines Grundstücks‘ nicht ‚im überragenden öffentlichen Interesse‘ liegt.“ Denn die aktuelle Rechtslage würde den zuständigen Planungsbehörden keine freie Ermessensentscheidung mehr ermöglichen.
In manchen Kommunen spielen sich nun regelrechte Dramen ab. Ein besonders prominentes Beispiel ist das geplante Stadtquartier Rosenstein in Stuttgart. Hier wird der Hauptbahnhof unter die Erde verlegt, wodurch 85 Hektar Fläche freiwerden. Dort sollen eigentlich bis zu 5.700 Wohnungen entstehen. Doch als Konsequenz der neuen Rechtslage könne das Projekt nicht umgesetzt werden, erklärte Stuttgarts Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) nun im Verkehrsausschuss. Seit 1995 werde das Projekt diskutiert, 2001 habe die Stadt die Flächen gekauft, ohne sich eines Risikos bewusst zu sein. Stuttgart ist kein Einzelfall. Dem Deutschen Städtetag wurden 25 Projekte gemeldet, die nun auf der Kippe stehen.
Das Kuriose am Beispiel Stuttgart ist, dass sich vor allem grüne Politiker verärgert mit einem Problem herumschlagen müssen, dass ihre eigene Partei im Bundestag maßgeblich mit verursacht hat. Auf den ersten Blick scheint es, als seien die Folgen des neuen Paragrafen 23 AEG eine Art Unfall. Die umstrittene Formulierung ist erst im parlamentarischen Verfahren in das Gesetz eingebaut worden. Die kommunalen Spitzenverbände wurden nicht mehr einbezogen, bevor das Parlament die Änderung beschlossen hat.
Manchen gefällt die Neuregelung
Doch diese ist kein Versehen, sondern hat nach wie vor viele Fürsprecher. Das wurde im Verkehrsausschuss nun deutlich. Denn auch die alte Rechtslage galt vielen als problematisch. Darauf wies Joachim Berends hin, Vorstand der Bentheimer Eisenbahn AG. Immer wieder scheitere die Reaktivierung von Bahnstrecken daran, dass Teilbereiche entwidmet oder überbaut worden seien. Bei Esens an der Nordsee komme die Reaktivierung nicht vom Fleck, weil auf der alten Strecke mittlerweile ein Supermarkt stehe. Auf einer eigentlich günstig gelegenen Strecke nach Salzgitter sei nun eine Bundeseinrichtung im Weg. Aufgrund solcher Erfahrungen würden Eisenbahner*innen sagen: „Man kann eine Strecke stilllegen, aber entwidmen sollte man nie mehr“, so Berends.
Dirk Flege, Geschäftsführer des Vereins „Allianz pro Schiene“, plädierte ebenfalls dafür „dass man die Finger von der Entwidmung lassen sollte“. In den vergangenen Jahrzehnten sei das Schienennetz geschrumpft, der Güter- und Personenverkehr aber habe stark zugenommen. Nun würden nachts Geisterzüge durch Berlin fahren, weil es nicht mehr ausreichend Abstellflächen gebe. Zudem sei es kaum möglich, sichere Prognosen zu erstellen, welche Bahnstrecken langfristig nicht mehr benötigt werden. Vor zehn Jahren hätte zum Beispiel niemand vorhersagen können, dass in Grünheide bei Berlin eine Tesla-Fabrik mit 10.000 Arbeitsplätzen entstehen würde.
Urs Kramer, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Passau, stellte die strikte Genehmigungspraxis des Eisenbahnbundesamtes in Frage. Die Neuregelung erhöhe die Schwelle, aber sei „kein absolutes Entwidmungsverbot“. Man könne weiterhin abwägen. Nur weil eine Behörde das anders sehe, müsse man nicht „das Kind mit dem Bade ausschütten“ und gleich das ganze Gesetz zurücknehmen. Die Rechtsauffassung des EBA sei bisher auch nie gerichtlich überprüft worden, weil es dazu bisher keine Verfahren gebe.
Städte sehen dringenden Handlungsbedarf
Dem widersprach Hilmar von Lojewski vom Deutschen Städtetag entschieden. Dem EBA könne man keinen Vorwurf machen, „es richtet sich nach Recht und Gesetz“. Wohnungsbau sei per Definition kein überragendes öffentliches Interesse, dass ein selbiges überwiegen könne. Nun würden Flächen blockiert, die seit Jahrzehnten in der Entwicklung seien und für die es notarielle Kaufverträge gebe. Von Lojewski appellierte dringend an den Bundestag, die alte Rechtslage wiederherzustellen. Oder zumindest zu einer interfraktionellen Einigung zu kommen, wie man Bahnflächen schützen und trotzdem langjährige Projekte weiterverfolgen könne. In eine ähnliche Richtung argumentierte Ute Bonde (CDU), Berlins Senatorin für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt.
Wie aber könnte ein möglicher Kompromiss aussehen? Einen Vorschlag machte Dirk Flege von der Allianz pro Schiene. Man könne die Entwidmung von Bahnflächen erlauben, wenn es sich lediglich um Inselflächen handele, also um Überbleibsel, die sich ohnehin nicht mehr nutzen lassen. Oder wenn es zu einem Flächentausch gekommen sei wie bei Stuttgart 21, sodass die Kapazität des Schienennetzes sich insgesamt nicht verkleinere. Drittens regte er eine Stichtagsregelung an: Alte Projekte, die vor dem Inkrafttreten des neuen AEG auf den Weg gebracht wurden, könne man von den strengeren Entwidmungskriterien befreien.
Dass ein Kompromiss dringend gefunden werden müsse, unterstrich auch Rolf Gaßmann, Vorsitzender des Deutschen Mieterbundes in Baden-Württemberg. Wenn 30 Jahre alte Planungen wegen eines neuen Gesetzes nicht umgesetzt werden könnten, führe das zu Unverständnis und Politikverdrossenheit, warnte er.
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.