Demo gegen Sellner in Marburg: „Antifaschismus ist Teil meines Amtseids“
Der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner plante am Montag eine Lesung in Marburg – diese wurde dann kurzfristig nach Gladenbach verlegt. In Marburg hatte sich Protest formiert. Darüber sprachen wir im Vorfeld mit Oberbürgermeister Thomas Spies.
IMAGO / rheinmainfoto
Marburgs Oberbürgermeister Thomas Spies (Archivbild aus dem Jahr 2020)
Mit gleich zwei Demonstrationen haben Menschen in Marburg am Montag gegen eine geplante Lesung des Rechtsextremisten Martin Sellner protestiert. Zu einer ersten Kundgebung am Nachmittag kamen laut Polizei 1.000 Demonstrierende, abends vor der Stadthalle wurden 2.500 Teilnehmende gezählt. Sellner verlegte seine Lesung kurzfristig von Marburg ins benachbarte Gladenbach. Laut Polizei nahmen dort etwa 50 Menschen teil. Ober den Protest gegen Sellner sprachen wir vorab mit Thomas Spies (SPD), seit 2015 Oberbürgermeister der Universitätsstadt Marburg.
Warum hat die Stadt Marburg zu einer Kundgebung gegen einen Auftritt des österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner aufgerufen?
Die Universitätsstadt Marburg hat gegenüber rechtsextremen und xenophoben Haltungen, Positionen oder Meinungen eine sehr klare Haltung. Die Stadtverordnetenversammlung hat den Magistrat beauftragt, den Marburger Bürgern die Gelegenheit zu geben, ihr Missfallen über diese Thesen und den Auftritt kundzutun. Deswegen organisieren wir in Erfüllung des Auftrags der Stadtverordnetenversammlung eine eigene Kundgebung.
Wir haben das auch schon in den vergangenen Jahren gemacht. Wir hatten in Marburg vom Magistrat eingeladene Demonstrationen nach den rassistischen und antisemitischen Anschlägen in Chemnitz, Halle und Hanau sowie eine Kundgebung im Januar. Ich finde das auch richtig, weil es in der Abgrenzung zur staatsgefährdenden extremen Rechten eine große Einigkeit in der Bevölkerung gibt, die einen neutralen Einlader gerne haben möchte, um die Gelegenheit zu nutzen, ihr Missfallen zu äußern. Wenn es eine zivilgesellschaftliche Struktur hier gibt, die die ganze Breite der Bevölkerung abzubilden und zu mobilisieren in der Lage ist, werden wir als Stadt dieser auch die Organisation überlassen. Diese Rolle könnte in Zukunft das noch junge Netzwerk für Demokratie und gegen Rechtsextremismus einnehmen.
Wissen Sie, wo Martin Sellner auftreten wird? Wenn ja, welche Handhabe haben Sie als Stadt?
Nein, wir wissen nicht wo. Wir gehen davon aus, dass das in einem privaten Raum stattfindet. Das Ordnungsamt hat Herrn Sellner gefragt, wo er auftritt. Denn solange es legal ist, dass er hier auftritt, müssen wir sicherstellen, dass ihm nichts passiert. Aber er hat uns seinen Veranstaltungsort nicht verraten.
Die Stadt Potsdam hat Anfang des Jahres versucht, ein Einreiseverbot gegen Sellner zu erwirken und ist damit gescheitert. Haben Sie etwas ähnliches im Vorfeld auch diskutiert?
Wir haben es diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Sinn macht, das noch mal zu tun, nachdem Potsdam gescheitert ist. Die Stadtverordnetenversammlung hat allerdings beschlossen, dass sie ein Einreiseverbot gegen extremistische Verfassungsfeinde grundsätzlich richtig findet. Denn wir kämen ja auch nicht auf die Idee, jemanden, der hierher kommt, um für die Errichtung eines Kalifats in Deutschland zu werben, die Einreise zu erlauben, wenn es sich vermeiden lässt. Es ist das gute Recht der Bundesrepublik Deutschland, Menschen, die unsere staatliche Ordnung in ihren Grundfesten infrage stellen, nicht hier haben zu wollen. Möglicherweise muss man da noch mal über den gesetzlichen Rahmen schauen.
Thomas Spies
Es ist das gute Recht der Bundesrepublik Deutschland, Menschen, die unsere staatliche Ordnung in ihren Grundfesten infrage stellen, nicht hier haben zu wollen.
Kritiker*innen monieren, die Stadt würde in Sellners „Provokationsfalle“ tappen, die Proteste seien ein Geschenk für ihn. Was entgegnen Sie dieser Kritik?
Die Kritik ist nicht völlig unberechtigt. Das ist immer eine zweischneidige Sache, aber erstens würde es in Marburg in jedem Fall Protest dagegen geben. Es gibt drei angemeldete Demonstrationen, diejenige, die von der Stadt und dem Netzwerk für Demokratie und gegen Rechtsextremismus veranstaltet wird, und zwei weitere. Die beiden anderen sind sehr viel dichter am vermuteten Veranstaltungsort.
Zweitens darf man bestimmte Positionen und Haltungen nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen. Wir haben viel zu lange geglaubt, dass man die extreme Rechte ignorieren dürfe. Wir haben viel zu lange zugelassen, dass Positionen der extremen Rechten in die gesellschaftliche Normalität hinein diffundieren. Es ist dringend nötig, deutlich zu dokumentieren, was in unserer Gesellschaft akzeptabel ist und was nicht. Deswegen sind die Gründe, den Bürgerinnen und Bürgern die Gelegenheit zu geben, ihr Missfallen auszudrücken, stärker als die Sorge, dass der Mensch dadurch bekannt wird. Das ist er sowieso schon.
Eine ARD-Doku nahm kürzlich die Verbindungen zwischen der AfD und rechtsextremen Burschenschaften unter die Lupe. Inwieweit sehen Sie auch in Marburg eine Gefahr durch rechtsextreme Burschenschaften wie die Rheinfranken und die Germania?
Als Oberbürgermeister bin ich gegenüber allen zugelassenen politischen Parteien neutral. Aber wir wissen, dass bereits zu Zeiten, als das erste Mal NPD-Abgeordnete in Landtage eingezogen sind, deren Personal in Marburg wohl studiert hat, und zwar gerade im Umfeld einiger Burschenschaften. Herr Höcke und Herr Krah erzählen selbst, dass sie in Marburg studiert haben. Insofern gibt es auch in Marburg besondere Beziehungen zu bestimmten Burschenschaften. Dagegen vorzugehen, entzieht sich der Ebene der Kommunalpolitik. Die Frage ist, ob der Verfassungsschutz zu dem Ergebnis kommt, dass es sich um gefährliche Institutionen handelt. Solange der Verfassungsschutz das nicht klar definiert und Konsequenzen daraus zieht, bleibt uns gar nichts anderes, als deren Existenz zu akzeptieren.
Welche anderen Möglichkeiten sehen Sie im Kampf gegen Rechtsextremismus?
Es ist die Aufgabe der öffentlichen Hand und aller ihrer Strukturen, klar zu sagen, was man von rechtsextremen Positionen hält, und mit allen Mitteln des Rechtsstaats dagegen einzutreten. Antifaschismus ist Teil meines Diensteides. Antifaschismus ist Teil eines jeden Diensteides von Mitgliedern der Exekutive, also von städtischen Bediensteten, von hauptamtlichen Oberbürgermeister*innen, von Minister*innen und Regierungsmitgliedern.
Denn die Landesverfassungen und das Grundgesetz sind klar ausgerichtet für eine freiheitliche, liberale Weltordnung. Sie sind in ihrer Entstehung auch klar gegen Rechtsextremismus entwickelt worden. Insofern gibt es einen Handlungsauftrag, bei dem man den rechtlichen Rahmen nicht verlassen darf.
Deshalb nehmen wir hier eine klare Position ein. Die Stadtverordnetenversammlung hat mit überwältigender Mehrheit eine klare Position eingenommen, was die politische Auseinandersetzung angeht. Gleichzeitig gilt, dass der Rechtsstaat sich immer im Rahmen der Regeln verhalten muss. Das ist nicht immer ganz einfach zu vermitteln und nicht immer einfach verständlich. Man darf sich nicht auf das Niveau von Autoritären begeben, die die weltoffene, freiheitliche Gesellschaft infrage stellen wollen.
Dieses Interview ist zuerst auf vorwaerts.de erschienen.
DIRK BLEICKER
ist Redakteur des vorwärts im Berliner Vorwärts Verlag. Er hat Politikwissenschaft studiert.