Wo ehrenamtliche Bürgermeister für das Amt zurückstecken
Rund ein Drittel der ehrenamtlichen Bürgermeister*innen reduziert ihren Hauptberuf, um die freiwillige Aufgabe gut zu meistern. Was die insgesamt 6.451 Ehrenamtlichen antreibt und wo ihnen der Schuh drückt, beleuchtet eine Studie der Ruhr-Universität Bochum.
IMAGO / Sämmer
Rathaus der Verbandsgemeinde Lingenfeld (Rheinland-Pfalz): Viele Bürgermeister üben ihre Tätigkeit ehrenamtlich aus, darunter auch die sechs Ortsbürgermeister*innen der Verbandsgemeinde.
10.788 Bürgermeister*innen gibt es in Deutschland. Knapp 60 Prozent aller deutschen Gemeinden werden durch Ehrenamtliche verwaltet. Jörg Bogumil hat an der Ruhr-Universität Bochum den Lehrstuhl für öffentliche Verwaltung, Stadt- und Regionalpolitik inne. Zum Anlass der Studie sagt er: „Gemessen an der Tatsache, wie verbreitet ehrenamtliche Bürgermeister in Deutschland sind, hat auch uns überrascht, wie wenig aus der Forschung über sie bekannt war.“ Der Fokus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bürgermeister*innen liege eindeutig auf den hauptamtlich tätigen Amtskollegen.
Neue Erkenntnisse
Sein Team führte Interviews und befragte rund 1.500 ehrenamtliche Bürgermeister*innen online, um ein Bild dieser Gruppe zu gewinnen. Seit der Auswertung steht fest: Der typische ehrenamtliche Bürgermeister ist männlich, verheiratet, über 50 und Vater von Kindern über 14. Nur 19 Prozent der ehrenamtlichen Bürgermeister*innen sind Frauen.
Im Schnitt wenden die Befragten 25 Stunden pro Woche für ihr Ehrenamt auf. Das ist mehr als eine (unbezahlte) Halbtagsstelle. Zählt man die hauptberufliche Arbeitszeit hinzu, kommen sie locker über die maximale Arbeitszeit von zehn Stunden täglich. Damit Zeit für die Familie und für eigene Wohl bleibt, gaben 35 Prozent der Befragten an, den eigentlichen Job zur Teilzeitarbeit gemacht zu haben.
Nur ein Drittel will wieder kandidieren
Berufstätige unter den Ehrenamtlichen sind jedoch eine Minderheit: 27 Prozent gaben an, nicht berufstätig zu sein, die meisten von ihnen sind Rentner*innen. Nur 21 Prozent der Befragten gaben an, Familie, Hauptberuf und das Amt sehr gut oder gut vereinbaren zu können. Für 56 Prozent sei es manchmal schwierig und für 22 Prozent sehr schwer. Der Anteil der Frauen in der Kategorie „sehr schwer“ lag mit 27 Prozent deutlich über dem der Männer mit 21 Prozent.
Ohne die Ehrenamtlichen wären viele Verwaltungen kleinerer Gemeinden kopflos. Das könnte einigen drohen: Denn nur 34 Prozent erklärten, dass sie erneut kandidieren möchten, 37 Prozent zeigen sich unsicher. 27 Prozent schließen eine weitere Kandidatur aus. Nicht erneut kandidieren möchten insbesondere ältere und weibliche Bürgermeister*innen. Die gestiegene Anspruchshaltung in der Einwohnerschaft und die zunehmend raue Diskussionskultur im Alltag sind laut Studie unter den Faktoren, die viele Befragte von einer erneuten Kandidatur abhält.
Großes Aufgabenspektrum
Bogumils Mitarbeiterin Louisa Anna Süß hat die Antworten ausgewertet. Die Wissenschaftlerin stellt fest: „Am meisten hat uns überrascht, wie vielfältig der Aufgabenbereich ehrenamtlicher Bürgermeister*innen ist – auch jenseits der in den Kommunalverfassungen festgeschriebenen Tätigkeitsfelder.“
Die Ehrenamtlichen seien „mehr als nur Gratulanten bei runden Geburtstagen, sondern auch Gestalter des Ortes“. Sie seien zudem Impulsgeber für neue Vorhaben, Ansprechpartner für allerlei Fragen der Bürger*innen, Dienstherr für kommunales Personal sowie Expert*innen in Verwaltungsfragen. Und sie übernähmen eine wichtige Scharnierfunktion im politischen System durch ständigen Informationsaustausch zwischen Verwaltungsgemeinschaft, Landkreis und der Gemeinde. „Für die politische Repräsentation in kleinen, ländlichen Gemeinden, sind sie zentral“, so die Projekt-Mitarbeiterin.
Bevölkerung besser aufklären
Damit das so bleibt, empfehlen die Autor*innen der Studie „eine bessere finanzielle Ausstattung und die Kooperation mit den Verwaltungsgemeinschaften“. Das könne „Handlungsspielräume eröffnen, um die Kommune bei vertretbarem zeitlichem Aufwand zu gestalten“. Dem gewachsenen Anspruchsdenken der Bürger*innen und der verhärteten Diskussionskultur im Alltag könne man durch bessere Aufklärung über die Aufgaben und Kompetenzen von Bürgermeister*innen entgegentreten, um mehr Verständnis für die ehrenamtliche Position zu erzeugen.
Zudem brauche es Hilfsangebote für Bürgermeister*innen im Fall von Hass und Hetze im Amt. Über die Hälfte (55 Prozent) der Befragten gaben an, mindestens einmal Erfahrungen mit Anfeindungen oder Hass im Amt gemacht zu haben, ein Drittel sogar mehrfach. „Davor müssten sie bestmöglich geschützt werden bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung“, so David Gehne vom Bogumil-Team. „Aber auch unterhalb dieser Schwelle sollte es Angebote für Betroffene geben, die Hilfe bei der Bewältigung benötigen. Dafür braucht es finanzielle Unterstützung von Bund und Ländern, daher ist es nicht sinnvoll, wenn bei Unterstützungsangeboten wie ‚Hate aid‘ oder in der politischen Bildung die Bundeszuschüsse gekürzt werden.“
Studie zum kostenfreien Download:
Ehrenamtliche Bürgermeister in Deutschland: Das unbekannte Wesen
Anmerkung: In einer früheren Fassung dieses Textes hatte es geheißen, 45 Prozent der Bürgermeister*innen hätten ihren Hauptberuf zugunsten des Ehrenamtes reduziert. Diese Zahl aus einer Pressemitteilung zur Studie ist nicht korrekt. Tatsächlich sind es laut der Studie 35 Prozent.
ist freier Journalist. Er ist Mitglied im Verein Deutsches Institut für Normung und dort im Redaktionskreis für eine DIN Einfache Sprache. Webseite: leichtgesagt.eu