Kongress in Wittenberge: Kleinstädte wollen mehr Aufmerksamkeit
In der Forschung wurde die Bedeutung von Kleinstädten lange übersehen. Eine neue Akademie in Wittenberge will das ändern und den Erfahrungsaustausch zwischen den Städten verbessern. Nun lud sie zum Kongress.
Carl-Friedrich Höck
Bürgermeister*innen und Verwaltungsfachleute aus ganz Deutschland trafen sich in Wittenberge
Zwei Tage lang ist Wittenberge in Brandenburg ein Hotspot der Kommunalpolitik. Mehr als 40 Bürgermeister*innen treffen sich seit Mittwoch hier, außerdem zahlreiche Amts- und Fachbereitsleiter*innen aus ganz Deutschland. Der Grund: In Wittenberge hat die neu gegründete Kleinstadtakademie ihren Sitz, und diese hat zu ihrem ersten großen Kleinstadt-Kongress geladen.
Etwa jede*r dritte Deutsche lebt in einer Kleinstadt. Damit gemeint sind entweder Kommunen mit einer Einwohner*innenzahl zwischen 5.000 und 20.000 oder Gemeinden, die eine „mindestens grundzentraler Funktion“ innerhalb eines Gemeindeverbandes, wie es das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) definiert. In Deutschland gibt es mehr als 2.100 Kleinstädte.
Kleinstädte mit eigenen Stärken
Und diese bräuchten eine Lobby in der Bundespolitik, aber auch eigene Ideen und Tatkraft, betonte Wittenberges Bürgermeister Oliver Hermann (parteilos) bei der Eröffnung des Kongresses. „Wir sollten uns nicht messen mit den Großstädten“, riet er. Deren vielfältige Gastronomie könnten Kleinstädte nicht haben. Aber sie hätten andere Stärken: Etwa ihre Kleinteiligkeit, den direkteren Kontakt zum Bürgermeister, ein Straßenverkehr mit weniger Hektik und Aggressivität als in einer Metropole.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sah es ähnlich – als bekennender „Provinzler“, wie er sich selbst nannte. Die Bedeutung von kleinen und mittleren Städten in der Fläche sei nicht zu unterschätzen. Sie böten Gesundheitsversorgung, Bildungsangebote, kulturelle Highlights und vieles mehr. Diese Städte „bestimmen über die Entwicklungschancen einer ganzen Region.“
Es gebe aber auch Kleinstädte mit vielfältigen Problemen, machte Dietmar Horn deutlich. Er ist Abteilungsleiter im Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB). Konkret nannte der den demografischen Wandel: „Die Alten sterben, die Jungen ziehen weg“. Das führe dazu, dass Geschäfte und Schulen schließen oder der Öffentliche Nahverkehr weiter eingeschränkt werde.
Bedeutung von Kleinstädten wurde übersehen
„Kleinstädte sind das Rückgrat dieses Landes“, meinte Horn. In Debatten über Stadtentwicklung und Urbanität würden sie aber oftmals übersehen. Das bestätigte auch Annett Steinführer, Sozialwissenschaftlerin beim Thünen-Institut. Es gebe eine in der Stadt- und Raumforschung eine „Aufmerksamkeitslücke“. Das Forschungsfeld Kleinstädte werde erst seit den 2010er Jahren aufgebaut, vorher habe es das kaum gegeben.
Warum das ein Problem ist, verdeutlichte sie am Beispiel des Wohnungsmarktes. Die Relevanz des Themas in kleineren Gemeinden werde unterschätzt. Und es fehlten Daten. „Kleinstädtische Wohnungsmärkte sind eine absolute Blackbox.“ Die damit befassten Forscher*innen hätten große Hoffnungen darauf gelegt, dass der Zensus 2022 solche Daten liefert. Was er auch tat – aber nicht alle waren brauchbar. So wurden Ferienwohnungen in der Statistik als Leerstand erfasst. „Das war nicht der Sinn der Übung“, komentierte Steinführer.
Neben solchen Grundsatzdebatten bot der erste Kongresstag viele konkrete Praxisbeispiele, wie Kleinstädte ihre Entwicklung in eine positive Richtung steuern können. Unter anderem in einer Gesprächsrunde über Leerstand in Innenstädten. Ursula Fallapp, Geschäftsführerin eines Marketingvereins aus der Samtgemeinde Elbtalaue, sprach über die Probleme der Geschäftsbetreiber*innen in Dannenberg. Dort fehlt es an Laufkundschaft, ein eigener Laden rechnet sich oft nicht. Ihr Tipp: „Versuchen Sie es einfach mal mit Zusammenschlüssen!“ In Dannenberg wurde eine Markthalle eingerichtet, die von 26 regionalen Erzeugern gemeinsam bespielt wird. Nach dem gleichen Modell gibt es dort auch ein „Kaufhaus des Wendlandes“, hierfür haben sich 19 Kunsthandwerker*innen zusammengeschlossen, sowie ein gemeinsam betriebenes Geschäft für Kunst, Schmuck und Kleidung.
Scheitern kann zu Fortschritt führen
Auch Großenhain hat das Problem, dass Geschäftsinhaber*innen in Rente gehen und sich oftmals keine Nachfolger*innen finden. Die Stadt versucht mit einem „Blind-Dates“-Projekt potenzielle Interessent*innen für eine Geschäftsübernahme zu finden.
Bürgermeister Nico Ritz aus Homberg (Efze) betonte: „Innenstadtrevitalisierung lässt sich nicht am grünen Tisch planen“. Man müsse individuell herangehen, ausprobieren „und mutig sein zu scheitern.“ Auch die Projekte seiner eigene Gemeinde hätten nicht immer wie erhofft funktioniert, etwa „RAUMStipendien“ zur Leerstandsaktivierung oder ein „MakerSpace“, in dem Schüler*innen sich mit kreativen Projekten austoben sollten, der aber kaum angenommen wurde. Trotzdem, führte der parteilose Bürgermeister sinngemäß aus, entstünden aus solchen Erfahrungen neue Ideen. Frei nach dem Publizisten Sascha Lobo formulierte er: „Verwaltung muss lernen, sich voranzuscheitern.“
Ganz ähnlich hatte es zuvor schon Siw Foge formuliert, die Leiterin der Kleinstadtakademie. „Am ehesten kann man davon lernen, wenn mal etwas nicht geklappt hat.“ Dann müsse die Nachbarkommune denselben Weg nämlich nicht noch einmal laufen.
Kleinstadt-Akademie soll Dialog fördern
Die 2024 gegründete Akademie hat genau das zum Ziel: Die Kommunen sollen sich gegenseitig stärken und in den Austausch gehen. Neben dem Wissenstransfer sei es ihre zweite Aufgabe, die öffentliche Wahrnehmung der „Kleinstadtfamilie“ zu verbessern, so Foge. Damit meint sie etwa die Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen auch außerhalb der Metropolen.
Sechs Personen arbeiten im Team der Akademie. Neben dem Kongress sind weitere Formate geplant, etwa „Kleinstadtakademie auf Tour“. Hierfür werden die Forscher*innen demnächst in Hessen unterwegs sein, um dort den Dialog zu suchen. Dazu kommen digitale Angebote wie „Webtalks“.
Mehr Informationen
kleinstadtakademie.de
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.