Obdachlose aus der EU: „Wir brauchen solidarischeren Finanzierungsmechanismus“
Immer mehr Wohnungslose kommen aus anderen EU-Staaten nach Deutschland. Wie die Stadt München mit Betroffenen umgeht, hat die DEMO Gerhard Mayer, den Leiter des Amtes für Wohnen und Migration der bayerischen Landeshauptstadt gefragt.
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Gerhard Mayer ist Leiter des Amtes für Wohnen und Migration der Landeshauptstadt München. „Den viel zitierten Pull-Effekt erleben wir hier nicht“, sagt er im Gespräch mit der DEMO.
DEMO: Wie viele wohnungslose Menschen aus anderen EU-Staaten leben in München? Gibt es dazu Schätzungen?
Da muss man unterscheiden: Es gibt Wohnungslose aus EU-Staaten, die hier Sozialleistungsansprüche haben, weil sie über einen längeren Zeitraum in Deutschland gearbeitet haben oder seit mindestens fünf Jahren im Land leben. Und es gibt Wohnungslose, die keine Ansprüche haben. Was letztere betrifft: Wir haben im Übernachtungsschutz im Durchschnitt 450 Menschen pro Nacht. Dazu kommen stadtweit etwa 350 Obdachlose, die auf der Straße leben. Die haben wir mit einer wissenschaftlichen Begleitung gezählt. Und von denen kommen etwa zwei Drittel aus anderen EU-Staaten. Das sind also ungefähr 210 Menschen.
Aus welchen Staaten kommen diese Menschen mehrheitlich?
Aus Bulgarien und Rumänien. An dritter Stelle folgt Polen.
Aus welchen Gründen sind sie nach München gekommen?
Diejenigen, die hier keine Ansprüche haben, kommen in der Regel aus benachteiligten Gegenden ihrer jeweiligen Länder. Zum Teil gehören sie Gruppen an, die in ihren Ländern diskriminiert werden, zum Beispiel Roma. Diese Menschen haben oft durch Schwarzarbeit oder Betteln hier ein besseres Einkommen, als sie es in ihrer Heimat je haben könnten. Wenn sie am Tag zehn Euro zusammenbekommen, haben sie im Monat 300 Euro. Davon schicken sie sogar noch Geld nach Hause.
Wie geht die Stadt mit dem Phänomen um? Welche Angebote macht sie diesen Menschen?
Wie viele andere Kommunen hatten wir ursprünglich ein Kälteschutzprogramm. Das heißt: Wenn die Temperaturen im Winter unter null Grad sinken, bietet die Stadt den Menschen die Möglichkeit, in einer städtischen Einrichtung unterzukommen. Während der Corona-Pandemie wurde das zu einem ganzjährigen Übernachtungsschutz weiterentwickelt. Wir bieten den Menschen, die es brauchen, jetzt also auch witterungsunabhängig eine Übernachtungsmöglichkeit. Tagsüber müssen sie die Einrichtung verlassen, können aber ihre Sachen dalassen. Und für diejenigen, die nicht mobil sind oder tagsüber in der Stadt unterwegs sein wollen, bieten wir einen Tagestreff an.
Was passiert in diesem Tagestreff?
Es gibt Beratungsangebote, aber man kann sich dort auch einfach unterhalten, einen Tee trinken oder über WLAN mit dem Handy Nachrichten austauschen und Informationen suchen.
Wie geht die Stadtgesellschaft mit dem Phänomen um, dass in München Wohnungslose aus anderen Ländern leben? Manche empfinden Betteln als störend. Überwiegt bei den Münchner*innen die Ablehnung oder Solidarität?
Es gibt beides. Viele Menschen geben Geld oder spenden Lebensmittel. Als Stadt erhalten wir aber auch Beschwerden über das Betteln. Da müssen wir dann erklären, dass wir als Stadt gegen stilles Betteln gar keine Handhabe haben – jedenfalls nicht außerhalb der Fußgängerzone, wo eine Satzung das Betteln untersagt. Grundsätzlich sind Wohnungslose aus EU-Staaten aber kein Thema, das die Stadtgesellschaft spaltet.
Welche Wünsche äußern wohnungslose EU-Bürger*innen in Gesprächen mit Behörden? Fragen sie nach Zugang zu den Sozialsystemen, wünschen sie sich Hilfe bei der Jobsuche oder bei der Rückkehr in die Heimat?
Alles. Natürlich wünschen die Menschen sich hier eigene Wohnungen. Doch die Wohnungssituation in München ist wirklich schwierig. Selbst jemand, der Sozialleistungsansprüche hat, bekommt in München nicht immer eine eigene Wohnung, sondern muss gegebenenfalls auch in einer städtischen Einrichtung unterkommen.
Wir machen verschiedene Angebote: Es gibt ein Info-Café, wo wir die Betroffenen vorwiegend aus Bulgarien und Rumänien – auch muttersprachlich – bei der Aufnahme regulärer Arbeit unterstützen. Wir beraten sie, damit sie nicht durch Schwarzarbeit ausgebeutet werden. Und wir unterstützen diejenigen, die in die Heimat zurückkehren wollen. Auch dadurch, dass wir die Fahrkarte für die Rückreise finanzieren.
Wohnungslose Menschen aus anderen EU-Staaten gibt es nicht nur in München. Tauschen Sie sich mit anderen Kommunen dazu aus?
Ja. Über das Thema wird zum Beispiel auf den Tagungen der BAG Wohnungslosigkeit, des Deutschen Vereins oder in den Arbeitsgruppen zum „Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit“ gesprochen.
Welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede erleben Sie beim Umgang mit dem Thema?
Ein Unterschied: Unser System ist in München relativ weitgehend. Die Menschen, die zu uns kommen, haben oft keine Krankenversicherung. Wir sind meines Wissens derzeit die einzige Kommune in Deutschland, die eine verstetigte „Clearingstelle Krankenversicherung“ hat. Dort versuchen Mitarbeiter*innen eines freien Trägers, die Krankenversicherungssituation der Menschen zu klären. In 50 Prozent der Fälle finden wir tatsächlich eine existierende Krankenversicherung. Und in den anderen 50 Prozent hilft ein Fonds, den die Stadt aufgelegt hat, um die schlimmsten gesundheitlichen Themen beheben zu können. Dabei geht es oft um Zahnprobleme oder auch ein gebrochenes Bein.
Als Amtsleiter einer Kommunen bewegen Sie sich in einem vorgegebenen Rechtsrahmen. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten an den Freistaat Bayern, den Bund oder auch die EU: Wie würde er lauten?
Ich glaube, dass wir einen solidarischeren Finanzierungsmechanismus bräuchten. Zum Beispiel einen europäischen Fonds, der es den Kommunen ermöglicht, die wohnungslosen Menschen besser zu unterstützen. Persönlich könnte ich mir auch vorstellen, die Fünf-Jahres-Frist, bis EU-Bürger*innen hier Anspruch auf Sozialleistungen erhalten, zu verkürzen. Den vielzitierten Pull-Effekt erleben wir hier in München nicht. Nach meiner Erfahrung kommen die Leute nicht nach Deutschland, um hier Sozialleistungen abzugreifen. Was in diesem Kontext auch eine Rolle spielt: Um nachzuweisen, dass man seit fünf Jahren in Deutschland lebt, braucht man eine Meldeadresse. Viele kennen aber die deutsche Struktur gar nicht und melden sich, wenn sie irgendwo zur Untermiete wohnen, nicht beim Amt an. Da sehe ich ebenfalls Handlungsbedarf
Dirk Bleicker
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.