Wie Frühe Hilfen Kinder vor Gewalt schützen
Frühe Hilfen gibt es seit bald 20 Jahren. Sie sind ein Angebot zur Beratung und Unterstützung Schwangerer, Eltern und Alleinerziehenden. In Karlsruhe ist ein beeindruckendes Netzwerk entstanden, das Ratsuchende überall in der Stadt erreicht.
Thomas Trutschel/photothek.net
Kind mit Teddy (Symbolfoto): Frühe Hilfen unterstützen Eltern in den ersten Lebensjahren ihres Kindes dabei, sich in ihre neue Rolle hineinzufinden.
Martin Lenz ist seit 2009 Sozialbürgermeister der Stadt Karlsruhe (308.000 Einwohner). Davor hat er das Sozialamt geleitet. Der SPD-Politiker kennt das System der Frühen Hilfen von Beginn an: Im Jahr 2007 hat das damalige Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen und soziale Frühwarnsysteme“ auf den Weg gebracht. Hintergrund war, so erinnert sich Lenz, eine auffällige Häufung gravierender Fälle von Gewalt an Säuglingen und Kleinkindern, begangen von den eigenen Eltern.
Seit 2000 haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere Entwürdigungen gefährden das Kindeswohl. Sie verstoßen gegen die UN-Kinderrechtskonvention und sind verboten. So viel zur Theorie. Tatsächlich listet die Statistik damals bis zu 35 tote Säuglinge und Kleinkinder im Jahr auf. „Wir haben uns damals gefragt, ob der Staat dafür nicht ein stückweit die Verantwortung trägt“, so der Sozialbürgermeister. Er spricht von „düsteren Zeiten“. Für die medizinische Versorgung von Schwangeren, Säuglingen und Kleinkindern sind die Krankenkassen zuständig. Wer aber sorgt sich um die meistens jungen Menschen, die mit der Vorstellung, Eltern zu sein, psychisch nicht klarkommen?
Probleme früh erkennen und individuelle Hilfe bieten
Oftmals werden solchen Eltern erst auffällig, wenn es zu spät ist, wenn sie wegen Misshandlung ihres Kindes vor Gericht landen. Regelmäßig berichten Medien, dass Mütter oder Väter aus Überforderung ein Schreikind zu Tode schütteln. Drei Jahre Haft lautet in der Regel das Urteil. Hier frühzeitig einzugreifen, bevor es zu einer Gefährdung des Kindeswohls und zu einer Straftat kommt, ist die Idee der Frühen Hilfen für Eltern mit Kindern zwischen null und drei Jahren. Weil die Angebote außerhalb des strafbaren Bereichs liegen, müssen sie so gestaltet sein, dass die Betroffenen sie freiwillig in Anspruch nehmen.
Wie für die Jugendämter sind die Stadt- und Landkreise für die Organisation der Angebote zuständig. Zur Koordination und zum Austausch hat die Regierung 2007 das „Nationale Zentrum Frühe Hilfen“ (NZFH) eingerichtet. 2012 wurden die Frühen Hilfen im Bundeskinderschutz-Gesetz verankert (Paragraf 1 „Kinderschutz und staatliche Mitverantwortung“). Das Gesetz macht keine konkreten Vorgaben, wie die Frühen Hilfen in der Praxis auszusehen haben und welches Fachpersonal dahinterstehen muss. Am Ende kommt es darauf an, was die Kommune aus dem gesetzlichen Auftrag macht.
Aus einem Sehen und einem Gesehen-Werden besteht die Herausforderung. Wie identifiziert man in der Stadtbevölkerung diejenigen, die Hilfen gebrauchen könnten? Wie erfahren sie, dass es (kostenlose) Anlaufstellen gibt, an die sich Eltern vertrauensvoll mit Problemen wenden können, über die man nicht so gerne spricht? Die Probleme können finanzieller Art sein, eine zu kleine Wohnung, psychischer Art oder das schlechte Gewissen sein, das Neugeborene nicht zu lieben.
30 multiprofessionell aufgestellte Fachkräfte und ein Millionen-Budget
Das Team von Bürgermeister Martin Lenz besteht aus 30 Fachkräften, multiprofessionell aufgestellt, wie er betont. Es sind Familienhebammen, Kinderkrankenschwestern, Kinderärztinnen und -ärzte, Diplom-Psychologinnen und Ehrenamtliche. Sein Budget beträgt eine Million Euro, 170.000 Euro kommen vom Bund. Wenn man sich mit Martin Lenz unterhält, wird schnell deutlich, worauf es bei der Organisation der Frühen Hilfen im Kern ankommt: ein Team zu haben, das vertrauensvoll zusammenarbeitet und gut Netzwerken und Öffentlichkeitsarbeit betreiben kann. Zum Netzwerk gehören extern Kinderärzt*innen, Frauenärzte, Hebammen, Vereine oder auch das Jobcenter.
Überall im Stadtgebiet laden Elterncafés zum Besuch und zu Gesprächen mit anderen Eltern oder auch mit einer Sozialarbeiterin ein. Mehr als 200.000 Besucher*innen hatten die verschiedenen Cafés im vergangenen Jahr. Für Familien, die keine eigene Hebamme gefunden haben, gibt es spezielle Sprechstunden, in denen Hebammen sie beraten und unterstützen. Ehrenamtliche sind in das Programm „Wellcome“ eingebunden. Sie helfen bei der Kinder-Betreuung und begleiten Eltern bei Behördengängen.
Seit 1998 Fortschreibung eines Berichts zur Kinderarmut
Dass das Netzwerk in Karlsruhe so gut funktioniert, hat nach Überzeugung des Sozialbürgermeisters auch mit der Organisation seines Dezernats zu tun: Es ist zuständig für Jugend und Eltern, Soziales, Bäder, Schulen, Sport und Migrationsfragen. „Mit 1.400 Mitarbeitenden eine Megabehörde“, stellt Lenz fest, „alles aus einer Hand.“ In der Stadt hat Kinderschutz eine lange Tradition. 1998 veröffentlichte sie ihren ersten Bericht zur Kinderarmut. Der jüngste stammt aus dem vergangenen Jahr.
Bürgermeister Lenz ist voll des Lobes für sein Team. Trotz der vielen Amtsjahre hat seine Begeisterung für die vielen unterschiedlichen Aufgaben, die sein Dezernat zu leisten hat, nicht nachgelassen. Trotz des Fachkräftemangels finden sich immer genügend Bewerber*innen. Das zeigt ihm, dass die Arbeit bei den Frühen Hilfen attraktiv ist. Sein Team wird ihn vermissen. Lenz geht im Sommer in Ruhestand.
ist freier Journalist. Er ist Mitglied im Verein Deutsches Institut für Normung und dort im Redaktionskreis für eine DIN Einfache Sprache. Webseite: leichtgesagt.eu