Vom Spielhaus zum Rathaus
Das gotische Fachwerk-Rathaus der Stadt Wernigerode gehört zu den meistfotografierten und schönsten Amtsgebäuden der Republik. Seit langem regieren hier Sozialdemokraten.
Harald Lachmann
Mit seinen Erkern bildet das historische Rathaus eine malerische Kulisse – auch im Advent.
In mancher Hauptstadt weiß man: Ist der Präsident zu Hause, weht die Staatsflagge über dessen Palast. In der 32.000-Seelen-Stadt Wernigerode tut dies auch ein Fenster am Rathaus. Denn jeder Stadtführer erläutert beim Gang über den Markt: Sei eins der Fenster am Bürgermeister-Erker offen, arbeite der Oberbürgermeister in seinem Amtszimmer. „Das bekomme ich dann oft mit. Und wenn es passt, schaue ich auch mal runter“, schmunzelt Tobias Kascha.
Es hat halt seinen Preis, einen der schönsten Arbeitsplätze der Republik zu haben. „Allein das Amtszimmer verströmt eine einzigartige Atmosphäre“, freut sich der 44-Jährige. Aber während viele Städte schon froh wären, nur solch einen pittoresken Bürgermeister-Erker am Rathaus zu haben, bildet dieser 1584 erfolgte Renaissanceanbau lediglich eine weitere Facette an diesem überbordend prachtvollen Verwaltungssitz.
Geschenk an die Bürger in 1427
Auch Tobias Kascha, der seit 1. August 2022 die Amtsgeschäfte in der „bunten Stadt am Harz“ führt, ist sich dessen stets bewusst. Schließlich vermarktete der gelernte Tourismuskaufmann seinen Geburtsort einst selbst unter diesem Slogan. So weiß er, dass das Wernigeröder Rathaus stets weit vorn auftaucht in den Rankings der schönsten Rathäuser Deutschlands. Es fand es wiederholt auf Briefmarken wieder, und alljährlich erwählen es zahllose Paare aus nah und fern zur malerischen Kulisse für ihre Eheschließung.
Dabei sah der spitzbogige gotische Fachwerkbau anno 1277, als ihn Chroniken erstmals erwähnen, noch nüchterner aus. Er gehörte den Grafen, die hoch über der Stadt im Wernigeröder Schloss residierten, und diente teils als Gerichtsstätte oder Spielhaus. So wurden hier Gauklerspiele und Hochzeiten abgehalten. Im Untergeschoss hatte sich ein Weinkeller etabliert. Die Aufstockung um die Fachwerkgeschosse erfolgte erst 1492, die markanten Türme setzte man 1497 an. Sein heutiges, irgendwie heiteres Äußeres bekam der Bau dann nach einem Brand 1521.
Da gehörte das Rathaus bereits den Bürgern von Wernigerode: Anno 1427 hatte es ihnen der Graf geschenkt. Ein Ereignis, das für den heutigen Hausherren so denkwürdig ist, dass er es – wie schon seine Amtsvorgänger – zum Anlass für das jährliche „vasten-colleg” nimmt: einen Festschmaus, zu dem er 100 verdienstvolle Menschen der Stadt einlädt. Das steigt gewöhnlich im Festsaal des Rathauses. „Momentan sanieren wir diesen, weil er statische Probleme aufwies, ziehen neue Balken ein“, so Kascha. „Doch 2027, zum 500. Jahrestag dieses Ereignisses, empfangen wir die Gäste wieder hier.”
Ihren heutigen figürlichen Schmuck erhielt die auch erst frisch sanierte Rathausfassade im 16. Jahrhundert. Etwa Holzfiguren, die Heilige, Handwerker und teils auch Narren darstellen. Dass letztere in der Historie von Wernigerode wohl immer mal eine Rolle spielten, verrät auch ein Spruch über der Haupteingangstür des Rathauses: „Im selben Jahr – da dieses Haus erneut – ist auch noch wahr – der Spruch aus alter Zeit: Einer acht‘s – der andere betracht‘s – der dritte verlacht‘s – was macht‘s?”
Ahnenreihe mit vielen Roten
Tobias Kascha ist der 107. Rathauschef in Wernigerode, seit diese ab dem frühen 15. Jahrhundert namentlich verewigt sind. Ob unter seinen Vorgängern auch Narren agierten, sei mal dahingestellt. Sicher ist aber, dass hier von 1945 an häufig die SPD das Zepter führte. Der erste nach dem Krieg war Max Otto, der dann zwar zwangsläufig zur SED vereinigt wurde, aber so gut in Erinnerung blieb, dass noch eine Straße seinen Namen trägt. Es folgten Gustav Strahl, auf den Ähnliches zutrifft, und mit der Einheit Ludwig Hoffmann (1994–2008) und Peter Gaffert (2008–2022). Letzterer war zwar parteilos, wurde aber von der SPD nominiert. Und Gaffert war es auch, der den jungen Sozialdemokraten Tobias Kascha ermunterte, selbst zu kandidieren, als er nicht mehr antrat.
Für Kascha, der bereits sehr früh im Stadtrat saß und auch einige Jahre schon als Amtsleiter und Referent seines Vorgängers arbeitete, bedeutete seine OB-Wahl dann zunächst eine Zäsur: „Für Jahre saß ich in einem Nachbarbüro. So war es für mich anfangs ganz schwierig, plötzlich jeden Morgen in das Büro meines Chefs zu gehen und auf dessen Stuhl zu sitzen…“
Seine ganz spezielle Pracht entfalten das Rathaus und die tangierenden Patrizierhäuser naturgemäß während des Wernigeröder Weihnachtsmarktes bis zum 22. Dezember. Es ist dann komplett eingebettet in das vorfestliche Treiben. Vorm Rathaus lädt eine Bühne zu Musik und Talk, daneben nascht man Glühwein und Bratwurst, und selbst im Rathausinnenhof wird für die Bürgerinnen und Bürger Advent gefeiert. Er mutiert nun zum Filmhof, in dem Märchenklassiker wie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ oder die legendäre „Feuerzangenbowle“ über die Leinwand flimmern.
Harald Lachmann
ist diplomierter Journalist, arbeitete zunächst als Redakteur bei der Leipziger Volkszeitung, zuletzt als Ressortleiter Politik, und schreibt heute als freier Autor und Korrespondent für Tages-, Fach- sowie Wirtschaftszeitungen. Für die DEMO ist er seit 1994 tätig.