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„Ein Sehnsuchtsort der Politik“

Der Verwaltungsexperte und ehemalige Bremer Staatsrat Henning Lühr beschreibt, was eine moderne Verwaltung ausmacht, wirbt für mehr Kreativität statt Bürokratie und erklärt, warum die Umstellung in der Praxis manchmal noch schwerfällt. 
 

von Carl-Friedrich Höck · 18. November 2024
Henning Lühr

Wie Verwaltungen sich neu aufstellen können, treibt den Staatsrat a. D. Henning Lühr seit Langem um. Sein LinkedIn-Profil verweist auf Artikel 12 Absatz 1 der Bremischen Landesverfassung: „Der Mensch steht höher als Technik und Maschine.“

DEMO: Was macht für Sie eine moderne Kommunalverwaltung aus?

Henning Lühr: Sie ist bürgerorientiert, zuverlässig und mit ordentlichem Personal ausgestattet. Modern bedeutet, dass man sich immer wieder mit Strukturen, Management und rechtlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzt und prüft: Ist das noch zeitgemäß oder müssen wir etwas verändern? Ich würde an dieser Stelle gerne etwas Grundsätzliches sagen: Kommunen erbringen 75 Prozent der Verwaltungsleistungen in Deutschland. Leider sind die Kommunen nicht ihrer Bedeutung entsprechend in Entscheidungsprozessen beteiligt. Im IT-Planungsrat haben sie zum Beispiel nur ein Anwesenheitsrecht, also keine Stimme. Gleichzeitig sind Kommunen bei vielen Entscheidungsabläufen das letzte Glied, das dann vor Ort für alles gerade­stehen muss. Aus meiner Sicht brauchen sie ­eine bessere finanzielle Ausstattung. Und sie müssen besser unterstützt werden bei der Einführung von Künstlicher Intelligenz (KI), digitaler Transformation, aber auch beim Bürokratieabbau.

„Das haben wir schon immer so gemacht“ ist ein Satz, den man in Kommunen wahrscheinlich häufiger hört. Wie schafft man es, das Personal in einer Verwaltung davon zu überzeugen, gewohnte Abläufe umzustellen?

Die gewachsene Verwaltungskultur vergleiche ich gerne mit einem Flohzirkus. Ein Floh kann drei Meter hoch springen, im Flohzirkus soll er aber nur 50 Zentimeter hoch hüpfen. Deshalb baut man eine Glasplatte ein. Wenn der Floh dann hundertmal dagegen gesprungen ist, springt er auch nur noch 50 Zentimeter hoch und nicht mehr. Dieser Sozialisationsfaktor spielt auch in der Verwaltung eine Rolle. Um das zu ändern, müssen wir bei der Rekrutierung von Nachwuchs anfangen. Deutschland ist ein Einwanderungsland mit einer bunten Gesellschaft. Also braucht der öffentliche Dienst Menschen aus verschiedenen Communities. Es reicht nicht, wenn das angestammte Personal sich den Nachwuchs nur aus der eigenen Klientel heraussucht. Zweitens müssen wir bei der Ausbildung ansetzen. Wir sollten Kreativität fördern, statt den jungen Menschen beizubringen, nur in juristisch abgesicherten Vorgängen zu denken. Zum Beispiel könnten wir als Prüfungsaufgabe stellen: Entwirf uns eine Benutzungsordnung für das Schwimmbad. Drittens brauchen wir eine Fehlerkultur. Das traditionelle Beamtenrecht ist da sehr restriktiv: Jedes mögliche Fehlverhalten muss geprüft und jeder Fehler sanktioniert werden. Wenn wir unsere Verwaltungen kreativ weiterentwickeln wollen, müssen wir den Mitarbeitenden zugestehen, auch mal einen Fehler zu machen oder eine ­falsche Entscheidung zu treffen.

In vielen Verwaltungen herrscht Fachkräftemangel. Eine häufige ­Forderung lautet deshalb, dass Prozesse verschlankt und vereinfacht werden müssen. Was heißt das?

Auch hierbei geht es um rechtliche Fragen. Verwaltungsmitarbeitende sind darauf trainiert, immer auf Nummer sicher zu gehen. Also wird von einem Bewerber mit Uni-Abschluss nachträglich ein beglaubigtes Abiturzeugnis eingefordert, obwohl das gar nicht notwendig wäre. Solche Abläufe sollte man konsequent daraufhin prüfen, ob sie vereinfacht werden können. Auch die Digitalisierung darf nicht nur bedeuten: Wir verschicken jetzt Stromstöße statt Aktendeckel. Wir wollen schließlich nicht die bestehende Bürokratie digitalisieren, sondern neue Technik nutzen, um unsere Verwaltungsvorgänge zu verbessern. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungs­management (KGSt) hat das für das Personalwesen, also Einstellungsverfahren, vorgemacht. Schon im Vorfeld könnte ein Chatbot den Bewerberinnen und Bewerbern wichtige Fragen zu Gehalt und Aufstiegsmöglichkeiten beantworten. Und eine KI kann den ersten Check übernehmen, ob eine Bewerbung alle formalen Voraussetzungen erfüllt. So lassen sich Bewerbungsverfahren deutlich beschleunigen. Das erhöht auch die Chancen, gutes Personal zu finden. Denn wenn ­jemand mit guten Qualifikationen sich im Oktober bewirbt, aber erst im März ­Bescheid kriegt, ist er oft längst weg.

Bürger und Kommunen klagen über Bürokratie. Teilen Sie den Eindruck, dass der bürokratische Aufwand in Verwaltungen zugenommen hat?

Ja, das stimmt. Gleichzeitig sind die verschiedenen Behörden kaum vernetzt. Deshalb kann ein Studierender, der Wohngeld beziehen will, das nicht einfach in seinen BAföG-Antrag mit reinschreiben. Und wer ein Kind bekommen hat, muss beim Standesamt eine Geburtsurkunde beantragen, das Einwohnermeldeamt ­informieren und bei der Familienkasse Kindergeld beantragen. Für all das könnte man ein einziges, antragloses Verfahren einführen. Was wir dafür aber brauchen, ist eine gute Datenbasis, auf die Verwaltungen zugreifen können, also eine Registermodernisierung. Denn dann müssten Sie Unterlagen, die bereits einer Behörde vorliegen, nicht bei anderen ­Behörden immer wieder neu einreichen.

Was braucht eine moderne Verwaltung noch?

Wer in einer Kommunalverwaltung arbeitet, bekommt direkte Reaktionen von den Bürgerinnen und Bürgern. Wenn etwas nicht klappt, fragen Bürgerinitiativen oder örtliche Parteien nach, warum es hakt. Manchmal muss die Verwaltung auch Nachrichten übermitteln, die den Betroffenen nicht freuen. Da hilft es nicht, wenn Sie einen Bescheid juristisch so kompliziert formulieren, dass er zwar im Fall einer Klage vor dem Oberverwaltungsgericht besteht, aber von den Bürgern nicht mehr verstanden wird. Die Menschen wollen ernst genommen werden. Künstliche Intelligenz kann helfen, Inhalte klarer und verständlicher zu transportieren. Im besten Fall hakt die Verwaltung nach zwei Tagen nach: Sie haben einen Bescheid bekommen, können wir Ihnen dazu noch etwas erläutern?

Gibt es schon gute Beispiele, wie sich die Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern verbessern lässt?

In Bremen haben wir ein Online-Finanzamt gegründet, wo man zum Beispiel rund um die Uhr Fragen zur Steuererklärung stellen kann. Über die Zeitung haben wir dazu eingeladen, bei der Planung mitzumachen. Dann haben wir mehrere Workshops veranstaltet, in denen fast 280 Anregungen gegeben wurden. Da waren viele gute Hinweise dabei. Zum Beispiel, dass die Leute meistens nicht von Grund auf das ganze Verfahren erklärt bekommen wollen, sondern ganz konkrete Anliegen haben: Meine Oma ist gestorben, ein Kind wurde geboren, was mache ich daraus jetzt steuerrechtlich? Also brauche ich Hinweise, die genau diese Lebenslagen aufgreifen. Übrigens haben wir eine große Leuchtreklame „Online-Finanzamt ­Bremen-Bremerhaven“ in der Nähe der Disco-Meile angebracht, mit WLAN-Hotspot drumherum. Auch wenn das nur eine fiktive Adresse ist, hat die Stadt damit ein sichtbares Signal gesendet, dass sich die Verwaltung auf die Menschen zubewegt. Man muss auch mal unkonventionell sein.

Zu Beginn einer Wahlperiode versprechen oft alle Parteien, Bürokratie abzubauen. Trotzdem wird es mehr. Warum scheitern die Gesetzgeber immer wieder an ihren eigenen Ansprüchen?

Bürokratieabbau ist ein Sehnsuchtsort der Politik. Es fehlt aber die Übersetzung in den Apparat, dass man also sagt: Das hat absolute Priorität und der Verwaltungsmanager lässt sich jede Woche bei der Dienstbesprechung als erstes über die Fortschritte beim Bürokratieabbau berichten. Zum Beispiel könnten staatliche Leistungen gebündelt werden. Vieles, was sich die Politik für die Menschen ausgedacht hat, kommt dort gar nicht an – weil die Leute schlicht nicht wissen, was sie alles für Anträge stellen könnten oder ob sich das für sie lohnt. Um Leistungen zu bündeln, müssen wir den ­Zugriff auf die Daten verbessern.

Inwiefern wird die Künstliche Intelligenz das Selbstverständnis von Verwaltungsmitarbeitenden verändern? Wie viel KI verträgt eine Behörde und wo muss es menscheln?

Laut E-Government-Monitor sagen 68 Prozent der Menschen, dass sie sich mehr KI in der Verwaltung wünschen. Wichtig ist, dass wir digitale Teilhabe garantieren. Wir wollen schließlich keinen alles totalitär beherrschenden Staat wie im Roman „1984“, der uns über KI steuert. Sondern wir müssen die ethischen und rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz von KI klären. Ich empfehle Gewerkschaften und Personalräten immer, dazu eine Auseinandersetzung in ihren Behörden anzustoßen.

Welche ethischen Grundsätze empfehlen Sie für Verwaltungen?

Entscheidungen müssen von Menschen getroffen werden. Und KI darf kein Machtinstrument sein, das bestimmten gesellschaftlichen Gruppen Zugänge verweigert oder sie präferiert. Wenn es zum Beispiel um einer Personalentscheidung oder eine Auftragsvergabe geht, kann eine KI bei der Vorauswahl helfen – aber sie darf die Bewerber nicht nach ihrem sozialen Hintergrund klassifizieren.

Haben Sie einen persönlichen Tipp für einen Bürgermeister oder eine Landrätin, wenn diese die Verwaltungsmodernisierung aktiv vorantreiben wollen? 

Erstens sollte man ich gut vernetzen, also sich in Arbeitskreisen mit anderen Bürgermeistern und Landräten regelmäßig austauschen. Zweitens hilft es, Kontakte zu den Ausbildungseinrichtungen zu suchen. Dort gilt es zu klären: Welche Kompetenzen brauche ich in meiner Verwaltung und welches Profil soll meine Kommune gewinnen? Und drittens rate ich dazu, sich in den kommunalen Vertretungen wie Städtetag oder Landkreistag zu engagieren. Es ist ganz wichtig, dass die Kommunen mit einer Stimme sprechen, wenn es um die Modernisierung der Verwaltungen geht.

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Autor*in
Porträtfoto Mann mit Brille und dunkelblonden Haaren
Carl-Friedrich Höck

ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.

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